Die Rückkehr: "Kreuzfahrtschiff" der etwas anderen Art ...
Vom Camp zum nahen Fähren Check-In sollte es kein Problem sein: Einmal die Straße lang und fast da. Der Campingplatz leert sich, auch wir beschließen, loszufahren und sind kurz darauf am Check-In - oder zumindest an der Stelle, die wir für ein übliches Check-In halten. Aber weit gefehlt: Die bärbeißige Gestalt an dieser Sperre, die nun schon eher einer Zonengrenze zu entsprechen scheint, macht uns schnell klar, dass man hier nicht wie üblich ganz einfach Ticket vorlegen und durch kann - man müsse schließlich zuerst zum Check-In Gebäude und dort alles regeln.
Zerknirscht drehen wir um - etwas Zeit ist noch bis zum
Boarding-Schluss und so wird der Explorer in der Nähe dieses
ominösen Gebäudes geparkt und unsere Abgesandte wird
losgeschickt, alles vor Ort zu klären. In der Zwischenzeit passieren einige
Fahrzeuge, die man schon auf dem Campingplatz gesehen hat, scheinbar
problemlos die Sperre: Offensichtlich sind hier auch deutlich
intelligentere Leute unterwegs oder
sonst welche, die ganz einfach Bescheid wissen ...
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Die Abgesandte kommt fast im Laufschritt zurück vom Check-In Gebäude: Die vorgelegten Papiere haben nicht ausgereicht, nun müssen noch Fahrzeugpapiere her! Ungläubig staunend macht sich nun die ganze Besatzung auf den Weg zur "Abfertigung", wo uns eine resolute Dame erwartet. Auf die unbedachte Äußerung hin, das wäre ja wohl die aufwändigste Boardingprozedur im ganzen Baltikum, folgt umgehend die volle Strafpredigt: Man wäre hier in Latvia und nirgendwo sonst, man wäre hier vor kurzem noch sowjetisch sozialistisch gewesen, man hätte schließlich Riesenprobleme mit Autodiebstählen und müsste deshalb jedes Fahrzeug genau prüfen usw. usw.
Tief beschämt von so viel postsozialistischem Charme legen wir die Fahrzeugpapiere vor und können im Gegenzug schließlich die notwendigen Papiere für das Boarding erhalten. Die Verabschiedung von der Dame erfolgt nach schneller beidseitiger Versöhnung mit freundlichen Grüßen ...
Als Belohnung dürfen wir nun am Bärbeißigen vorbei und stehen jetzt ziemlich weit vorn direkt vor der STENA FLAVIA, unserer Fähre nach Travemünde, die am heutigen Freitag gegen Mittag ablegen wird. Am frühen morgigen Nachmittag, dem vorletzten Augusttag, sollen wir dann dort schließlich ankommen.
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Da es hier keine der üblichen Wartereihen gibt, spielen sich vor
unseren Augen nun unglaubliche Szenen ab: Unmengen von schweren LKWs
mit Anhängern müssen auf dem Platz vor dem Schiff umständlich wenden, um
anschließend rückwärts in die Fähre einzufahren. Manchmal schiebt
ein mitfühlender Rangier-Einweiser sogar vorn am Fahrerhaus symbolisch mit,
wenn es einem Fahrer dabei nicht im ersten Anlauf gelingt, den
gesamten Zug rückwärts an die richtige Stelle auf dem Autodeck zu
bugsieren - ein wahrhaft herzerweichendes Schauspiel ..!
Irgendwann dürfen auch wir an Bord, da wir nur ein "Klein-Lkw"
sind, müssen wir natürlich erst im Schiff wenden, um dann irgendwie
rückwärts vor und zwischen die größeren Lkws dirigiert zu werden -
die isländische Norröna war ja
glatt ein Witz gegen so etwas ..!
Als wir das Fahrzeug schließlich geparkt haben und die Treppen in Richtung Rezeption hinaufsteigen, schwant uns schnell, dass hier vermutlich ein sehr würdiges Ende unserer Fähren-Odyssee vor uns liegt: Nach der bisherigen Abfertigungsprozedur ist es nun eine sehr lange Menschenschlange, die sich hier im Treppenhaus gebildet hat und darauf wartet, dass vorn etwas voran geht ...
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Als sich nach 10 Minuten überhaupt nichts bewegt hat, die Schlange nur noch länger und die Rezeption nicht einmal in Sichtweite hinter der nächsten Ecke ist, beschließen wir, es diesmal anders zu machen: Erst einmal an Deck gehen, die Ausfahrt abwarten und später an der Rezeption einchecken.
Wir begeben uns wie üblich Richtung Reling, was wir diesmal allerdings nicht entdecken, ist eine Bar an Deck, die ein "Auslaufbier" verkaufen könnte - so etwas gibt es wie etliches andere ebenfalls nicht an Bord, wie wir bald wissen werden ...
Die Sicht nach hinten wird etwas behindert durch die im Wind flatternde Fahne des Schiffes: Die Stena Line Scandinavia AB hat zwar ihren Sitz in Göteborg, Schweden, das Schiff selbst aber hat den Heimathafen London und fährt unter britischer Flagge, die hier im Wind vor uns teilweise die Sicht versperrt - an der einzigen Lücke, die noch frei von Passagieren ist. Da bisher offenbar noch niemand auf die Idee gekommen ist, diese Flagge - erfreut durch Willkommenskultur, Abfertigungsprocedere sowie Bordservice - anzuzünden, weichen wir nach Backbord aus.
Von hier aus haben wir freien Blick auf die "Sperre",
an der wir vorher umkehren mussten: Obwohl die Heckklappe des
Schiffes noch geöffnet ist, hat man die Tore unten bereits wieder
verschlossen, vor denen nun noch ein Pkw ein zweites Mal vorfährt, den
man vorher ebenfalls zurückgeschickt hatte. Vom Bärbeißigen ist nun
allerdings nichts mehr zu sehen, der Fahrer des bayrischen Wagens telefoniert verzweifelt
vor seinem Fahrzeug, was ihm aber nichts hilft: Niemand wird mehr
das Tor für ihn öffnen, um ihn vor Abfahrt durch die immer noch
offene Heckklappe doch noch an Bord zu
lassen - wer zu spät kommt, den bestraft hier immer noch das
Personal ..!
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Langsam verlässt die Fähre später den Hafen von Ventspils, auch ohne Abschiedsbier wollen wir die tolle Aussicht auf Stadt, Hafen und das Meer nicht verpassen. Das Schiff passiert die blaue Abschiedskuh an der Hafenausfahrt und schon bald sind wir raus - Adios Ventspils!
Es ist nun Zeit, sich endlich zur Rezeption zu begeben und in der
Kabine einzuchecken: Zwar sitzt dort noch eine Dame, aber die
reagiert in den nächsten Minuten nicht im Geringsten auf die am
Tresen Wartende - ist nun auch hier Bestrafung für Zuspätgekommene
angesagt? Irgendwann schließlich überwindet sich die Dame, ihre
Schreib- und Zählarbeiten an Unterlagen und Schlüsseln kurz zu
unterbrechen, um mit bekanntem "sozialistischen Charme" die
Kabinenschlüssel doch noch auszuhändigen - es scheint geschafft, wir sind nun
auch "offiziell" an Bord!
Nach so vielen Tagen will man dann auch mal wieder duschen in seiner Kabine, doch kaum steht der Eingeseifte gegen 13:50 Uhr dazu bereit, ertönt eine Lautsprecherdurchsage - wie immer an Bord nur auf russisch und englisch -, die es kaum noch sinnvoll erscheinen lässt, groß abzuspülen: In 10 Minuten müssen sich alle Passagiere im Aufenthaltsraum der Fähre zu einer Seenotrettungsübung versammeln - Erscheinen zwingend!
In rasender Eile versuchen wir nun wieder Alarmbereitschaft
herzustellen, stürmen aus der Kabine und können mitansehen, wie
bereits neben uns auf dem Gang sämtliche Kabinen vom gelb behelmten
Personal von außen geöffnet werden: Bei dieser militärisch
anmutenden und überraschend angesetzten Übung vergewissert man sich
offenbar genau, dass sich nirgendwo mehr ein Passagier in seiner
Kabine versteckt. Gut, wer da nicht mehr vorhatte als nur
duschen ..!
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Wir lassen die Veranstaltung über uns ergehen, die wir so noch nie an Bord einer Fähre erlebt haben und bei der fast schon sentimentale Gefühle in Erinnerung an den ersten Tag mit Seenotrettungsübung bei einer Kreuzfahrt mit AIDA im Vorjahr aufkommen ...
Hier wird nun durchgezählt, Ausgänge werden bewacht und Listen
ausgefüllt, etliche Leute sitzen allerdings einfach weiter vor dem
Fernseher des Aufenthaltsraumes. Anleitungen von Schwimmwesten
werden vorgelesen, wobei die Vorlesenden nicht unbedingt den
Eindruck erwecken, sehr vertraut mit allem zu sein. Es wird auch auf
Prozeduren verwiesen, die an Bord ausgehängt sind, von denen wir
allerdings glauben, dass sie in der Praxis kaum so funktionieren
werden, weil viel zu kompliziert und untereinander mit zu vielen
Abhängigkeiten. Ein Schenkelklopfer wird uns
allerdings noch präsentiert: Eine der beteiligten Damen verweist
ernsthaft darauf,
wo man Verpflegungswünsche für den Notfall angeben könnte ...
Eine Stunde nach der "Übung" kann man an Deck plötzlich erkennen, dass die
Fähre merkwürdige Drehmanöver beginnt - was ist nun schon wieder los
..? Es wirkt kurzzeitig so, als würden wir umkehren, bis schließlich
das Schiff irgendwann wieder eindreht - kurz danach dröhnen die
Lautsprecher erneut durch das Schiff und auf Russisch und Englisch
wird mitgeteilt, man solle sich keine Gedanken machen, falls man
merkwürdige Manöver bemerke, es handele sich nur um technische Tests
...
An der Bierausgabe im Aufenthaltsraum hat sich mittlerweile auch bereits eine beachtliche Schlange gebildet, der Raum ist bevölkert von Mengen an LKW-Fahrern, die sich überwiegend auf russisch oder lettisch unterhalten - passend zum laufenden Fernsehprogramm hier, das ausschließlich russische und lettischsprachige Programme bietet, vor denen sich die LKW-Fahrer drängen und teilweise etwas lautstärker mehr vom einen und weniger vom anderen Programm verlangen.
Als das Abendessen naht, werden die schlimmsten Befürchtungen zur Gewissheit: Diesmal können wir der rund einstündigen Warteschlange vor der Essensausgabe nicht entrinnen, wenn wir heute noch etwas zu uns nehmen wollen an Bord dieser Fähre - launige Kommentare und Rufe einiger fassungsloser Franzosen in der Warteschlange verkürzen allerdings dann doch noch gefühlt irgendwie das Erlebnis ...
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Der Abend auf unserem sozialistischen Musterschiff unter
britischer Flagge verläuft erwartungsgemäß, allerdings gelingt es
immerhin noch irgendwann, ein letztes Bier für heute zu ergattern -
dass dieses vermutlich lettische Helle in einem bayrischen
Erdinger-Weißbierglas daher kommt, stört heute wirklich nur noch
ganz am Rande.
Bei Anbruch der Nacht noch ein ganz erstaunliches Wiedersehen: Aus unserer Kabine können wir hinüber schauen zu einem hell erleuchteten "echten" Kreuzfahrer, den wir bereits bestens kennengelernt haben: Die MSC POESIA begleitet uns heute Nacht noch ein ganzes Stück fast in Parallelfahrt auf ihrem Weg in die Ostsee und man wird fast wehmütig, wenn man an die letzten Begegnungen mit ihr denkt: Sowohl in Marseille als auch in Barcelona hatte dieses Schiff bereits direkt in unserer Nähe gelegen - allerdings war die damalige AIDAmar mit unserer heutigen STENA FLAVIA nicht ganz vergleichbar - zum Glück ..!
Die Frühstücksschlange am nächsten Morgen zeigt wenigstens, dass
nun wieder Hoffnung bestehen kann: Der Tag der Ankunft auch mit diesem
"Kreuzfahrtschiff" der ganz besonderen Art ist gekommen. Dass der
winzige "Souvenirshop" an Bord heute morgen geschlossen ist, wundert
nicht besonders. Auch die Einträge in dem Buch erstaunen nicht
weiter, das in der
wie üblich nicht besetzten Rezeption ausliegt: Selten so gelacht über die "begeisterten"
Einträge der Passagiere, die wir natürlich gleich ergänzen, ebenso wie
den Kasten mit Bewertungen unserer Passage. Irgendwo liest man dann
später (zwar nicht auf russisch, aber wenigstens auf englisch): "Ein
Schiff für drei Fahrten gleichzeitig - die erste, die letzte und nie
mehr wieder!"
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Lustig insgesamt, wenn man nach diesen Erlebnissen später im Web das liest, was die Reederei zu diesem Schiff und dieser Route anpreist:
"Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Überfahrt von Travemünde
nach Ventspils und zurück in vollen Zügen! An Bord finden Sie Übernachtungsmöglichkeiten
sowie ein Restaurant und einen Shop. Sie erreichen Ihr Ziel entspannt
und ausgeruht! ... Auf der 26-stündigen Überfahrt
haben Sie viel Zeit zum Relaxen - so erreichen Sie Ihr Ziel entspannt
und ausgeruht. An Bord finden Sie alles, was Sie brauchen. ... Komfort
für alle und einen ruhigen Rückzugsort für die ganze Familie.
... An
unserer Bar genießen Sie Ihren Kaffee am Nachmittag und Ihren
Cocktail am Abend bei schönstem Blick auf die Ostsee. ..."
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Wir nähern uns langsam aber sicher Travemünde und treffen erneut auf den Journalisten Michael Gallmeister, der einmal jährlich die Publikation Lett-landweit herausbringt, die sich jeweils mit interessanten wirtschaftlichen wie politischen Themen des Landes auseinandersetzt. Zentrales Thema der Ausgabe 2014, die er uns freundlicherweise überlässt, ist die aktuelle Problematik mit dem Nachbarn Russland und die um sich greifende Angst im Baltikum vor einer Eskalation der derzeitigen Spannungen. Die Interviews und Artikel in der Zeitschrift verschaffen dem Leser einen wesentlich umfassenderen Eindruck von der Realität hierzulande als ihn der Touri normalerweise unterwegs gewinnen kann ...
Wir
erreichen die Hafeneinfahrt von Travemünde und passieren
dabei den zweiten "Flying P-Liner" unserer Tour: Nach der
POMMERN in Mariehamn ist es nun die
PASSAT, an der wir vorbei fahren. Auch dieser stattliche Viermaster
ist das Wahrzeichen seiner Stadt und bietet aus der Entfernung ein
sehr ähnliches Bild wie der von uns besuchte P-Liner auf den Ålands.
Wir verlassen die STENA FLAVIA sehr gern heute Mittag und würden uns beim nächsten Mal ganz sicher um eine andere Transportmöglichkeit bemühen - aber ob und wann das passieren wird, ist derzeit natürlich noch vollkommen ungewiss ...
Die Rückfahrt nach München zieht sich wie üblich und erscheint - wie bei Rückreisen üblich - gerade noch einmal doppelt so lang. Wir beschließen deshalb noch einen Zwischenhalt in der Umgebung von Hannoversch Münden einzulegen.
Da
wir nicht die geringste Lust haben, bei nach wie vor unsicherer
Wetterlage den Explorer hier in Deutschland auszuladen, soll die
letzte Übernachtung im Hotel stattfinden.
Im Historischen Brauhaus von Reinhardshagen werden wir freundlich aufgenommen, bevor wir uns am nächsten Morgen daran machen, die letzte Strecke nach München zurückzulegen.
Dieses letzte Stück wird noch einmal richtig "gemütlich": Starkregen auf dem Weg, ein Auffahrunfall auf der Autobahn in der Spur unmittelbar neben uns.
Ein verunfalltes Taxi liegt schließlich bei München in
Flughafennähe am Straßenrand, andere Taxifahrer versuchen zu helfen.
Beim letzten Tankstopp schließlich folgt noch einmal ein heftiger
Wasserschwall ins Genick - wir sind wieder da, herzlich willkommen
zu Hause ..!
Nachtrag, April 2015: Fährengeschichten ...
Zusammenfassend noch einmal ein Überblick zu allen Fähren dieser Tour, mit denen wir so reichlich unterwegs waren, dass es nun erst einmal für eine ganze Weile reichen sollte:
Skandinavien / Baltikum 2014: Die Fährenflotte ...
Schiff | Bau | Werft | Länge (m) | Breite (m) | Tiefgang (m) | Tonnage (BRZ) |
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COLOR MAGIC | 2007 | Turku | 224 | 35 | max. 6,80 | 75.156 |
SYMPHONY | 1991 | Turku | 203 | 31,50 | max. 7,10 | 58.377 |
VICTORIA I | 2004 | Rauma | 193 | 29 | max. 6,50 | 40.975 |
ROMANTIKA | 2002 | Rauma | 193 | 29 | max. 6,50 | 40.803 |
STENA FLAVIA | 2008 | Porto Viro | 186 | 25,60 | max. 6,85 | 26.904 |
Nur wenige Wochen nach unserer Rückkehr mit diesem Schiff erwischte es dann schließlich auch noch unsere derzeitige "Lieblingsfähre", die STENA FLAVIA: Selbst bei Wikipedia kann man etwas zur vierten Schiffskollision des Jahres 2014 in Travemünde nachlesen:
"Am 11. November 2014 um 10:47 Uhr kollidierte die in den Hafen einlaufende Pulpca im Hafen von Travemünde bei Nebel mit der Stena Flavia, die am Skandinavienkai lag. Der Anlageponton des Anlegers 4 wurde beschädigt. Es wurden keine Personen verletzt. Auf der Stena Flavia wurden eine Wallschiene und ein Rettungsboot beschädigt. Gegen beide Schiffe wurde ein Auslaufverbot verhängt."
© 2015 J. de Haas