2 - Majas Geheimnis

Rätsel-Gastbeitrag von Thomas Bauer     


Nein! Nein! Nein!

Ich kann es nicht mehr hören! Sobald die Gäste abgezogen sind, gellen Schüsse durch die Nacht. Gepeinigte schreien im Todeskampf, Körper sacken in sich zusammen. Zurbaráns Lamm windet sich und versucht die Fesseln abzustreifen. El coloso wuchtet seinen mächtigen Körper mit zerschmetternder Kraft vorwärts. Nacht für Nacht verschlingt Boschs Riesenvogel Menschen und scheidet sie in eine ekelerregende Sickergrube hinein aus. Ich ertrage das nicht länger.

Wenn unsere Besucher nur wüssten, was auf unserer "Wiese" passiert, sobald sie nicht mehr hinsehen! Manche von ihnen scheinen es zu ahnen: Zuweilen beäugen mich die Wächter misstrauisch, als wollten sie sichergehen, dass ich noch immer wie tags zuvor in unbequemer Haltung verdreht auf der linken Seite liege, die Hände lasziv hinter dem Kopf verschränkt. Nackt präsentiere ich mich ihren Blicken; sie springen an mir hoch wie junge Hunde, verweilen auf meinem Gesicht, streifen meine Brüste und gleiten lustvoll hinab zu meiner Scham, jener zentimetergroßen Zone, die meinem Erschaffer so viel Ärger eingebracht hat.

... wie tags zuvor in unbequemer Haltung verdreht auf der linken Seite ...Vielleicht geschah es ihm recht. Schließlich hat er mir die ganze Sache eingebrockt. Allein mein Name: Maja. Wer will schon wie eine römische Fruchtbarkeitsgöttin heißen, nach der der Wonnemonat benannt wurde? Wer könnte einer solchen Erwartung gerecht werden? Dann das Spiel mit der Täuschung: Habe ich nun Kleider an oder nicht? Ist das nicht ein wenig größenwahnsinnig, ein bisschen zu gewaltig angelegt - in etwa wie der nördlich gelegene Paseo de la Castellana, auf dessen zehn Spuren die Autos dicht an dicht stehen?

Wer hätte gedacht, dass aus einer alcázar, einer maurischen Burg, dereinst eine Millionenmetropole werden würde? Ach, was sage ich, eine Hydra ist sie: Von überall her faucht und kreischt, brüllt und zischt sie, als wolle sie hier herein. Es ist doch erstaunlich, dass die beliebtesten Orte jene sind, in denen man der Illusion frönt, man sei der Stadt entkommen.

Gut, die Plaza Mayor ist ein Juwel, eine von Cafétischen umrahmte Freiluftarena für Akrobatik und Konzerte. Der Retiro aber macht seinem Namen alle Ehre: Hierhin zieht man sich zurück, um dem Lärm der Metropole zu entfliehen. Man genießt die Weitläufigkeit des Königspalastes, die Vielfalt im Botanischen Garten und den weltbekannten Museumsdreiklang, in dessen Zentrum ich mich befinde.

Wenn mich nur nicht tagtäglich Tausende Touristen aufsuchten! Achtlos gehen sie an meinen Leidensgenossen vorbei. Sie lassen die Jungfrau Maria links liegen, Jesus Jesus sein und kümmern sich nicht darum, wie formvollendet David sich über den besiegten Goliath beugt.

Einige kommen auf den Spuren Jostein Gaarders und versuchen verzweifelt, ein Mysterium in mir zu entdecken, das sie nicht sehen können, weil es sich in ihrer Fantasie abspielt. Junge Männer schätzen mich ab, ihre Blicke vergeben Haltungsnoten, sie horchen kurz in sich hinein, um herauszufinden, was ich in ihnen auslöse. Manche wenden sich enttäuscht ab, andere sind für Sekunden erregt. "Die Beine könnten etwas länger sein", bemängeln sie; manchmal flüstert ein Jugendlicher dem anderen zu, dass mein Gesicht ihm seltsam männlich vorkomme. Damit kann ich umgehen; immerhin haben sie verstanden, dass beinahe alles, worum es in diesem Gebäude geht, in ihrem Kopf passiert.

Die Frauen sind schlimmer. Entweder sind sie neidisch, dann kann ich ihre Abneigung riechen. Oder sie fühlen sich mir überlegen, dann machen sie mich durch ihr Mitleid klein. Mein Wesen erfassen weder die einen noch die anderen.

Wie jedes Ergebnis von Kunst bin auch ich nur eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und Ängste. Meine Besucher spiegeln sie in mir, um sie nicht direkt anschauen zu müssen. Nur darum geht es ihnen.

Von überall her faucht und kreischt, brüllt und zischt sie ...Sicherheitshalber bauen Einige von ihnen zusätzlich eine Mauer aus Fremdwörtern und Zuschreibungen auf. Sie fachsimpeln über Bildaufteilung und Farbgebung und sind stolz darauf zu wissen, dass 1936 Pablo Picasso dieses Gebäude hätte leiten sollen. Er blieb dann doch im französischen Exil und vollendete dort sein Gemälde Guernica. Andere sprechen von Proportionen und Armdicke, als wollten sie ein Kilogramm von mir kaufen.

Das alles wäre zumutbar, auch wenn meine linke Seite, auf die ich mich täglich zu stützen habe, inzwischen wund gelegen ist. Immerhin geht das bereits seit über zweihundert Jahren so. Nachts aber, wenn keines Menschen Auge uns mehr kontrolliert, erwachen wir innerhalb unserer Rahmen zum Leben.

Es ist immer das Gleiche: Wir tun willfährig, was unsere Erschaffer für uns vorgesehen haben. Warum nur? Sie sind doch längst nicht mehr da! Zu Beginn habe ich noch gerufen. Ich habe Zurbaráns Lamm erklärt, wie es die Fesseln lösen kann. El coloso habe ich geraten, sich einfach mal zu setzen und ihm zu erläutern versucht, dass innere Stärke mehr zählt als Muskeln. Die Menschen in Boschs Paradies habe ich gewarnt, dass sie sich, wenn sie so weitermachen, demnächst in der "musikalischen Hölle" wiederfänden.

Sie hören nicht auf mich. Vielleicht verstehen sie mich nicht, weil sie aus anderen Epochen stammen und andere Sprachen sprechen als ich. Aber ich weiß, dass sie eines Nachts revoltieren werden. Das Lamm wird seine Fesseln abstreifen, el coloso wird in seinem zerstörerischen Vorwärtsdrang innehalten, der von Bosch Gequälte wird sich aus den Saiten der Harfe befreien. Am nächsten Tag werden die Besucher Augen machen!

Vor allem aber muss es geschehen, es muss unter allen Umständen so sein, dass einer der acht französischen Infanteristen, die, das Gewehr im Anschlag, eine Mauer bilden, für den Bruchteil einer Sekunde innehält. Es darf nicht sein, dass diese Mauer kalt bleibt, ein einziger Mann mit acht Köpfen und ohne Gehirn. Einer muss anfangen. Er muss zögern, den Bruchteil eines Lidschlags zunächst. Dann wird er einem seiner Opfer für einen Millimoment in die hilflosen, verzweifelten Augen schauen - jenem Opfer, das er Nacht für Nacht erschießt.

Im Triumph werde ich meinen Bewunderern die Zunge herausstrecken ...In der Nacht darauf wird sein Blick auf die Toten zu seinen Füßen fallen. Vielleicht dauert es weitere zehn Nächte, vielleicht auch zehntausend: aber irgendwann wird jener Infanterist sich umschauen. Er wird den bunten Haufen der Aufständischen betrachten bis hin zu den Wundmalen in ihren Händen. Seine Kameraden wird er als dumpfe, uniformierte Masse wahrnehmen. Dann wird er erschaudern.

Es wird passieren, ich weiß es. Es muss geschehen, dass ihm während dieses Lidschlags klar wird, dass in jener Nacht vom zweiten auf den dritten Mai 1808 auf dem Hügel von Principe Pio nicht nur Soldaten auf Aufständische schießen, sondern Menschen auf Menschen.

Ich fiebere dieser Nacht entgegen. Sie wird kommen. Sie muss kommen, weil es sonst keine Hoffnung mehr für uns gibt. Für keinen von uns. Jener Soldat muss den Anfang machen. Er muss zeigen, dass wir eine Wahl haben. Nur er kann das tun. Sein Erschaffer hat ihm Macht über andere verliehen, und eines Nachts wird er ablehnen, sie einzusetzen. Er wird sich seiner Bestimmung entziehen. Er muss sich dem Befehl seines Erschaffers widersetzen.

Er muss es tun, weil er ein Mensch ist und es um ein Vielfaches schwieriger ist, loszulassen, als abzudrücken. Er muss es tun, weil das vorgesehene Ereignis noch nicht stattgefunden hat und es noch immer eine entsetzlich kleine Möglichkeit gibt, dass alles anders kommt, als es befohlen worden ist.

Er muss es tun, weil der konservierte Moment unsagbarer Spannung am Ende aufgelöst werden muss. Eines Nachts wird er es tun; ich weiß es. In derselben Nacht wird Zurbaráns Lamm seine Fesseln abstreifen, el coloso wird sich setzen, und der Gepeinigte wird sich aus den Saiten der Harfe winden.

Und ich? Ich werde mich endlich auf die rechte Seite drehen, und im Triumph werde ich meinen Bewunderern die Zunge herausstrecken ...


  • Habt ihr herausgefunden, wo "Majas Geheimnis" spielt und um welche berühmte Maja es sich handelt?

© 2021 Thomas Bauer