3 - Die Teufelsnase

Rätsel-Gastbeitrag von Thomas Bauer     


"Was meinst du: Wie viel kostet dieser Reiseführer? Ich verrat´s dir: drei Dollar. Drei lächerliche Dollar für einen Reiseführer, der dir alles über unser Land erzählt! Davon kann ich meiner Tochter höchstens ein Frühstück kaufen, und zwar eines ohne empanadas. Aber dir gebe ich das Buch natürlich gerne, guapita, sehr gerne sogar!"

Das schlanke Mädchen streicht eine karamellfarbene Haarsträhne zur Seite; sie zögert, doch das liegt nicht an meinem Angebot. Ich habe alles richtig gemacht: sie mit einem Blick angelächelt, der lang genug war, um ihr zu verdeutlichen, dass ich jetzt ganz für sie da bin, und gleichzeitig so kurz, dass sie keine Verbindlichkeit eingehen muss. Am Schluss habe ich die Augen eine Sekunde lang gesenkt, damit sie sich mir überlegen fühlen kann und mir den Reiseführer vielleicht aus Mitleid abkauft. Sie wird nicht erfahren, dass ich gar kein Vater bin und das Büchlein vor gut einer Woche auf der Straße aufgelesen habe.

Dass die gringa trotzdem nicht gleich zugreift, liegt daran, dass wir uns auf dem Dach eines Zuges befinden, der am Rand eines spektakulären Abgrunds entlangbalanciert. Dicht an dicht kauern Touristen und fotografieren einander mit lustvollem Gruseln. Manche Damenhand umfasst das fußknöchelhohe Geländer insgeheim so fest, dass die Gelenke weiß werden. Ich muss erst ein paar Späßchen machen, ehe ich hier etwas verkaufen kann.

Ich selbst hatte damals noch gar nicht von diesem Zug gehört ...Georges, der Franzose, ist schuld daran, dass ich mir Jahr für Jahr mit meinem Bauchladen einen Weg um die yankees herum bahne. Vor anderthalb Jahren hat er mir einen Panama-Hut abgekauft, der trotz seines anderslautenden Namens nicht in Panamá, sondern in unserem Land erfunden worden ist.

Bevor ich Georges kennenlernte, habe ich wie meine drei Brüder auf den Blumenplantagen geschuftet. Zwölf Stunden goss und schnitt ich täglich Rosen in den Gewächshäusern. Eine Firma aus Kolumbien verkauft diese an eine Firma in den Vereinigten Staaten und streicht den Löwenanteil des Gewinns ein. Nach einem halben Jahr bekam ich Hautausschlag von den Pestiziden. Trotzdem schleppte ich mich täglich von Neuem zur Arbeit. Was blieb mir anderes übrig? Ich bin ein Mestizo, und weder die indígenas vom Hochland, denen meine Mutter entstammt, noch die Kreolen von der Küste, wie mein Vater einer ist, sehen eine solche Mischung gerne.

Dann kam Georges auf unsere Plantage: ein rotgesichtiger Hüne, dem der Schweiß auf der Stirn stand. Er wolle sich anschauen, wie wir arbeiten, meinte er, dann fragte er mich, ob er mir den Hut abkaufen könne. Den bräuchte ich aber, um mich vor der Sonne zu schützen, erwiderte ich. Wenn er den Hut bekäme, beharrte er, gebe er mir seine Baseballkappe und obendrein fünfzig Dollar. Das entsprach ziemlich genau meinem Wochengehalt. An jenem Tag beschloss ich, mein Glück mit den Touristen zu versuchen.

Ich habe meine Entscheidung nie bereut. Man kann den Fremden alles verkaufen, solange man ihnen eine Geschichte erzählt - sogar chicha, unser Maisbier. Zum Glück wissen sie nicht, wie das hergestellt wird. Es beginnt zu gären, wenn sich der Speichel älterer Bäuerinnen, die stundenlang auf dem Mais herumkauen, mit den Körnern verbindet.

Touristinnen sind besonders leicht zu einem Kauf zu bewegen. Sie tragen Batik-Klamotten oder T-Shirts mit Bob Marleys Konterfei darauf und schämen sich entsetzlich dafür, dass sie reich sind und wir arm, ohne freilich grundsätzlich etwas an diesem Zustand ändern zu wollen. Preise runden sie auf, um ihr Gewissen zu beruhigen. Und sie sitzen lieber auf dem Dach eines Zuges statt auf den bequemen Sitzen drinnen, weil sie das für authentisch halten. Obwohl es uns nie in den Sinn käme, freiwillig so zu reisen.

Ich selbst hatte damals noch gar nicht von diesem Zug gehört. Erst ein Japaner, der mir ein Pappmodell der Mitad del Mundo abkaufte, erzählte mir davon. Die "Mitte der Welt": Was für ein Glück, dass der Äquator durch unser Land verläuft! Von den Fotos, die ich von den Besuchern schoss, "ein Bein auf der Nordhalbkugel, señor, das andere im Süden!", konnte ich so gut leben, dass ich meiner Familie einen Teil der Einnahmen abtrat. Nichts aber ist vergleichbar mit dem Verkaufsparadies, dem Zug - und das nur aufgrund jenes markanten Felsvorsprungs, nariz del diablo, auf den wir jetzt zuhalten.

Dann lässt José die Lokomotive rückwärts fahren ..."Die Teufelsnase": Schräg über uns wächst schroffes Gestein zum Himmel. Für mich sah es noch nie wie eine Nase aus. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, unseren Gästen eine Show zu bieten. Darum, dass bald wie zufällig ein Grüppchen indígenas in farbenfrohen Ponchos in der Landschaft auszumachen sein wird. Sie werden so tranceartig vor sich hinstarren, dass eigentlich jeder merken müsste, dass sie hier abgestellt werden. Es geht darum, dass sich die beiden freneros, die "Bremser", jetzt, da wir parallel zum Abgrund dahinzuckeln, wichtigtuerisch aus den Waggontüren lehnen und dem Zugführer mit übertriebenen Gesten bedeuten, langsamer zu fahren. Wir schleichen mit zwölf Stundenkilometern vorwärts, damit die Touristen Zeit haben, ihre Fotos zu schießen.

Jetzt dreht José im Führerhaus die Stirn der Lokomotive dem Abgrund entgegen und fädelt den Zug auf das unter uns liegende Sackgassengleis ein. Die Gäste auf dem Zugdach halten den Atem an. Keine Armlänge entfernt formieren sich gezackte Felsen zu Fabelwesen, auf der anderen Seite stürzt der Blick beinahe senkrecht ins Tal hinab. Sofern verfügbar, klammern sich die Damen an ihre Begleiter. Einer der freneros steigt aus und verstellt per Hand die Weiche. Dann lässt José die Lokomotive rückwärts fahren, auf das nächste, wiederum darunterliegende Sackgassengleis. Spitzkehre um Spitzkehre tänzeln wir den Hang hinab. Natürlich ist das unpraktisch und zeitaufwändig.

Zweitausend Sträflinge und eingekaufte Jamaikaner ließen im neunzehnten Jahrhundert ihr Leben, als sie Löcher ins Gestein sprengten, damit wir mit dem Zug von unserer Hauptstadt in die südlich gelegene Wirtschaftsmetropole und zurück gelangen konnten. Natürlich kann sich bis heute kaum einer von uns den Fahrschein für das zwölf Kilometer lange Teufelsnasenteilstück leisten. Ich freue mich trotzdem über jede Spitzkehre: Mit dem Abstieg unseres Zuges beginnt mein persönlicher Aufstieg.

Die yankees sind mittlerweile betrunken vor Erleichterung, heil aus diesem Abenteuer herausgekommen zu sein. Die Damen lassen das Geländer los, die Männer lümmeln selbstzufrieden auf dem Dach. Der Zug windet sich jetzt an Hütten und Ständen vorbei, in den Zwischenräumen wird der Blick hinausgezogen auf kakteenbewachsene Felder. Vereinzelt lassen Bauern ihre Arbeitsgeräte fallen und winken der Gästeschar zu. Viele winken zurück, halten Mobiltelefone und schlanke Kameras in die Luft und lachen. In diesen Minuten genügt es, wenn ich einfach nur da bin. Und tatsächlich: Ich muss die rubia, die "Blonde", nur anschauen, schon ruft sie mir zu: "Drei Dollar für den Reiseführer, sagst du? Ich gebe dir fünf, wenn du einen Schokoriegel dazulegst."

Was irgendwo gilt, wird bereits im Nachbardorf infrage gestellt ...Ein paar Jahre werde ich noch, jeweils im August und September, wie ein Seiltänzer auf dem Zugdach balancieren. Ich mag das Geruckel unter mir; ansatzlos habe ich mich in den neuen Umständen eingerichtet. Das geht uns allen so.

Eine Fabel, die mir meine Mutter erzählte, handelt davon, wie eine Mangrove auf ein Schilfrohr herabblickt. Schwach sei jenes, befand sie, von jedem Windhauch werde es zur Seite geneigt. Bald zog ein mächtiger Sturm auf. Die Mangrove stemmte sich dagegen und wurde fortgeweht. Das Schilfrohr aber bog sich, sodass ihm der Sturm nichts anhaben konnte. Wir sind dieses Schilfrohr. Warum auch nicht? Unser Land, das sind drei Klimazonen, auf engstem Raum vereint. Was irgendwo gilt, wird bereits im Nachbardorf infrage gestellt. In unserem kleinen Land trifft jedes Bedürfnis auf seine Erfüllung, man muss nur biegsam und hartnäckig genug darum kämpfen.

In welche Richtung werden mich die kommenden Ereignisse schubsen? Nach Norden vielleicht, in unsere Hauptstadt, jenes von vierzehn Vulkanen umkränzte Häusermeer, vierzig Kilometer lang und gerade mal drei Kilometer breit? Dort studiert Soledad an der Escuela Superior Politécnica, ihr Temperament ist explosiver als jenes der Vulkane Cotopaxi und Cayambe zusammengenommen. Allerdings sind die Nächte auf knapp dreitausend Metern Höhe für meinen Geschmack etwas zu frisch, und ich weiß, dass ich schon nach wenigen Wochen etwas anderes sehen möchte als kahlgeschorene Höhenrücken. Dann besser in den Regenwald des Oriente? Juanita backt dort Pfannkuchen, und wenn sie lächelt, schmilzt nicht nur die Butter in der Pfanne. Aber ihr Dorf liegt gar zu nah an unseren übermächtigen Nachbarn Kolumbien und Peru. Die nehmen uns von Norden und von Süden her in die Zange, immer wieder flammen Grenzstreitigkeiten auf.

Also werde ich, sobald ich genug Geld beisammenhabe, an die Küste ziehen. Dort packt Flor Bananen und Garnelen in Kartons. Wenn sie einem Kollegen in die Augen schaut, beginnen dessen Knie zu zittern, und er schreibt vor Verlegenheit darüber eine falsche Destination auf das Etikett. Zwischen dem Pazifik und den Hügeln des Hinterlandes werde ich mich einrichten. Ich werde mir ein Boot kaufen und Touristen von Machala zu den Stränden von Jambelí und zurück bringen.

Flor gegenüber werde ich ausmalen, wie ich dereinst auf dem Dach des Touristenzuges balancierte. Sie wird sich die karamellfarbene Hand vor den Mund schlagen, mich anschauen mit ihren Smaragdaugen, die alle um sie herum verrückt machen, und mich fragen: "Aber sag, wie heißt denn nun dieser Zug, dem wir unser Glück verdanken?" 


  • Habt ihr herausgefunden, um welchen Zug es sich handelt? In welchem Land befindet sich die "Teufelsnase"?

© 2021 Thomas Bauer