Sandflies - Erste Begegnung

Samstag, 16. November: Die erste längere Strecke auf der Südinsel soll heute rund 130 km betragen. Dabei geht es von Blenheim an der nordöstlichen Ecke quer hinüber Richtung Südwest. Wir machen uns dabei auf in die neuseeländischen Alpen, heutiges Etappenziel ist der Kawatiri Camp Ground in der Region Nelson/Tasman.

Hier ist etwas wirklich Interessantes speziell für "Bahnerkinder" zu finden: Der Historic Railway Walk soll rund eine Stunde dauern und man gelangt dabei über eine alte Eisenbahnbrücke zu einem Tunnel, der 1925 gebaut wurde. Eine Taschenlampe sollte man dabei mitnehmen und eine Warnung vor Sandflies gibt es dort auch, die uns ab sofort das Leben erschweren könnten. Nun, dieser Gefahr müssen wir uns ab sofort auf der Südinsel sowieso stellen, und nach Erfahrungen wie z.B. bei einer Tour wie Skandinavien 2000 weiß man, in welchem Umfang stechende oder beißende Mini-Ungeheuer einem Reisenden den Tag vermiesen können ...

Auf dieser Insel handelt es sich aber nicht um eine stechende, sondern um eine beißende Plage, zu der man auch viele Berichte findet, die Übles erahnen lassen: Titel wie Sandflies - Fluch des Campers sorgen nicht unbedingt für Vorfreude, wenn man hier also aufbricht in unbekannte Gefilde. Die u.a. auch als Kriebelmücken bezeichneten Viecher hatten wir auf der Nordinsel eigentlich überhaupt nicht zu Gesicht bekommen, obwohl Unterarten davon auch dort vorkommen sollen. Die Südinsel ist dagegen berüchtigt und auch die Verhaltensweisen der Mini-Monster werden geschildert: Nachts sollen sie nicht anzutreffen sein, dafür aber vermehrt morgens und abends. Wie bei den uns bestens bekannten Mücken sind sie in windigen Regionen eher nicht so geballt anzutreffen und ganz wichtig: Auch in Campern sollen sie sich nicht derart einnisten, wie es Mücken gern tun. Soweit also unsere Vorkenntnisse, mit denen wir heute starten.

Wir verlassen also Blenheim Richtung Westen und erreichen schon bald den Abzweig der Straße SH63 von der nach Norden Richtung Nelson verlaufenden SH3. Wir fahren an diesem Abzweig allerdings ganz einfach geradeaus weiter auf der SH63, vorbei auch am Weingut Oddstone und sind damit auf einer Art "Sehnsuchtsstraße" angekommen, die für den Fahrer die großartigste des gesamten Neuseelandbesuchs bleiben wird. Wer die wunderbaren Straßen im Norden Finnlands oder Schwedens kennt, bei denen man lange Zeit weder ein Fahrzeug vor oder hinter sich sieht, kommt sich auch hier auf dieser SH63 vor wie im Autofahrerhimmel: Wir fahren und fahren, großartige einsame Landschaften ziehen vorbei, einzelne Anwesen, abgelegene landwirtschaftliche Höfe, Verkehr nahezu Null in beiden Richtungen, nur wir allein auf weiter Flur - hier macht Autofahren wieder Spaß, was jeder Skandinavienfahrer vermutlich bestens nachvollziehen kann ...

Marlborough Weinanbau ... Wehrhaft ist man hier schon ... Weinanbau in der Ebene ...
Eine der schönsten Strecken der Tour: Richtung Westport ... Allein unterwegs: Verkehr Fehlanzeige ... Viel Landschaft am Straßenrand ... Kein Mensch weit und breit ...

Selbst wenn man sofort am liebsten hier nicht mehr weg will, man weiß aber auch etwas über die Konsequenzen solcher Infrastruktur: Wenn man bereits in Jahre kommt, denkt man natürlich auch über etwas nach wie z.B. das Einkaufen für den täglichen Bedarf oder die medizinische Versorgung, von Unterhaltung und Gastronomie ganz zu schweigen. Nun, in medizinischen Notfällen wird in NZ sehr viel mit Hubschraubern gemacht, was anders auf diesen Inseln und in solchen Gegenden auch gar nicht möglich wäre. Aber wie lange würde es dauern, bis ein Arzt hier ankäme? Wie weit muss man fahren und wieviel einkaufen für die Versorgung? Was macht man, wenn man nicht unbedingt bis Wellington oder nach Christchurch fahren will für etwas Kultur, oder wenn man einfach mal essen gehen möchte? Derartige Fragen treten natürlich beim Blick aus dem Autofenster in den Hintergrund, vor allem wenn man leider nur als Tourist diese Abgeschiedenheit genießen kann und nicht unbedingt über eine Umsiedlung noch heute hierher nachdenkt ...

Nach langer Fahrt, die man bei aller Begeisterung sicher nie vergessen wird, erreichen wir irgendwann unser Ziel, den Kawatiri Camp Ground. Und sind schlagartig wieder in der Realität angekommen: Es hat inzwischen angefangen, stark zu regnen und dieser Campground erweist sich hier und jetzt als ziemlich trostloser Fleck direkt an der Durchfahrtsstraße, ohne jede Infrastruktur. Wir drehen noch eine Runde über den nach unten abfallenden verschlammten Platz, von dem gerade ein oder zwei Fahrzeuge abfahren und auf dem sich ansonsten überhaupt niemand aufhält - bei diesem Platz und vor allem bei diesem Wetter kein Wunder!

Innerhalb weniger Minuten steht der Entschluss fest: Hier werden wir keinesfalls bleiben und deshalb müssen wir jetzt weiterfahren. Roadbook hin oder her! Schnell werden online Infos "gewälzt" und schon nach kurzer Zeit ist eine Lösung gefunden: Keine 15 Kilometer weiter befindet sich der Owen River Campground und der wirkt gegenüber dem Platz hier nicht nur wie ein "Rest and Creation Center" (Originaltext Webseite), sondern mit einer vorhandenen Taverne für uns schon fast wie ein "Holiday Park" ...

Rettung für heute: Owen River Taverne ... Am Tresen: Kim Siu ... Willkommener Unterschlupf ...

Bereits wenig später stehen wir auf dem Parkplatz: Die Taverne wirkt nach unserem vorigen Stopp sehr einladend und so gehen wir hinein. Eine Chinesin ist hinter dem Tresen zu sehen, die gemeinsam mit ihrem Mann, der hier kocht, das Camp betreibt. Die beiden sind John und Kim Siu, die bereits vor gut drei Jahrzehnten von Hongkong nach Neuseeland emigrierten. Wie sie ebenfalls auf ihrer Webseite mitteilen, erweiterten sie 2003 ihre Unterbringungsmöglichkeiten und betreiben seitdem zusätzlich auch ein Motel.

Wir fragen nach einem Stellplatz für unseren Camper, da wir vor dem Haus nichts dergleichen erkennen können und auch danach, ob man bei ihr morgen frühstücken könne, was Kim bejaht. Sie erklärt uns, dass der Campingplatz den Weg hinunter hinter dem Haus liegt. Wir checken ein und fahren durch ein Tor: Ein schmaler (fast) Fußweg führt ein paar hundert Meter weg vom Haus und schließlich hinunter auf ein weitläufiges Wiesengelände, das an den Owen River anschließt - auf den ersten Blick ein sehr idyllisches Plätzchen.

Wir stellen uns unten auf dem Gelände in die Nähe eines größeren überdachten  Unterstandes, der offenbar als Versammlungsplatz auch für Gruppen von Campern dient. Wir steigen aus und stellen unsere Stühle samt Tisch hier auf und bereits nach kurzer Zeit merken wir, dass wir nun "angekommen" sind: Am wahren Versammlungsort der berühmten Sandflies!

Das riesige Wiesengelände, der nahe Fluss und auch das leicht regnerisch wirkende Wetter heute ergeben wohl für unsere neuen Freunde eine fantastische Mischung und Anlass, uns begeistert zu begrüßen: Erinnerung an alte Zeiten in Skandinavien werden urplötzlich wach und uns wird klar, dass dies hier eine etwas trügerische Idylle ist - aber was hilft´s, wir müssen da durch!

Die Biester sind tatsächlich so ätzend wie erwartet und geben Anlass, ein eigentlich für die Wäsche gewechseltes Hemd ganz schnell wieder gegen das frisch angezogene zu tauschen: Lieber wieder ein schmutziges Craghoppers-Hemd, das den Viechern nicht gefällt, als ein sauberes Nicht-Craghoppers, das zum Besuch und zur Landung einlädt ...

Camp-Idylle? Fliegende Mitbewohner warten hier schon ... Owen River
(Fast) allein auf weiter Flur ... Landschaftlich wunderschön gelegen ... ... und nur einen Fußweg entfernt von der Taverne

Wir entschließen uns später zum geordneten Rückzug von unserer Wiese - welche Gründe braucht man nun eigentlich noch, jetzt Kim oben in ihrer Gaststube zu besuchen? Sie scheint nicht erstaunt, als wir wieder vor ihrem Tresen auftauchen, vermutlich ahnt sie bereits, was sie zuerst gefragt wird. Und tatsächlich, die ersten Fragen beziehen sich auf "ihre" Sandflies, die wohl hier und heute die zahlreichsten Campinggäste sind. Sie nickt wissend und wirkt echt mitleidend, als sie erklärt, dass dies hier schon ein Problem sei, sie sich aber im Laufe der Jahre daran gewöhnt hätten. Klar fällt einem dabei ein, dass die "Einheimischen" im Laufe der Zeit kaum noch unter diesem Phänomen leiden und daran gewöhnt sind, aber was hilft´s, wenn man selbst so schnell noch kein Einheimischer geworden ist?

Es ist also Zeit, Kim´s Biere zu testen, und das bei ihr gezapfte "Export Gold" erweist sich als gut trinkbar. Offenbar hat die Bezeichnung "Export" schon etwas zu bedeuten, wenn man es mit einem der hier so zahlreichen Craft-Biere vergleicht, das für den gewöhnlichen EU-Standardbiertrinker nicht immer unbedingt ein Genuss sein muss. Passend zum Bier bestellen wir anhand der Bilder an der Barwand etwas chinesisch wirkendes zum Essen und tatsächlich wirft John schon kurz darauf den Wok an - heute muss nicht am offenen Camperheck für Millionen Mitgenießer gekocht werden ...

Wir erfahren von Kim, dass ihr Sohn in D studiert und deshalb auch gut Deutsch spricht, sie selbst versucht sich ebenfalls an einigen deutschen Brocken. Sie erklärt auf Rückfrage auch, was mit ihrem Briefkasten draußen los ist, den ein Vogelpärchen regelmäßig anfliegt: Selbst der Briefträger weiß, dass dort derzeit nichts hineingeworfen werden darf, weil er als Nest dient - NZ ist wirklich das Vogelparadies!

Als wir langsam wieder Richtung Campground zurückspazieren, wobei die Tierwelt nicht nur aus Sandflies besteht, sondern auch wieder Vogel-Lieblinge und andere "Kuschelige" auftauchen,  sehen wir, dass man dort nicht mehr allein ist: Eine ganze Gruppe von Kanuten ist eingetroffen, die nun hier ihre Fahrt und den Rücktransport mit mehreren Fahrzeugen organisieren. Auch nachdem sie gestartet sind, bleiben wir nicht allein auf dem Platz: Ein junger Mann, offensichtlich Maori, will hier gemeinsam mit zwei Mädels Pkw-Camping machen. Lange hantieren sie an ihrem Fahrzeug herum und wandeln schließlich den überdachten Unterstand neben uns in ihren Aufenthaltsort um - gemütlich geht anders!

Unser täglicher Weka ... Zusammenrücken angesagt ... Hier mag einer Touris ...
Kanuten am Platz ... Start in den Owen River ... Auf geht´s!

Lange können wir die Drei noch aus dem Camper heraus sehen, die offensichtlich mit ein paar undefinierbaren Flaschen auskommen für ein unterhaltsames Wochenendvergnügen, schließlich ist heute ja Samstagabend ...

Es ist der Vorabend des 17. Novembers, ein Datum, das in der sehr gelungenen Krimiserie Brokenwood aus Neuseeland thematisiert wird: Das ist der Abend, wo sich die Menschen regelmäßig auf die Lauer legen zum Beobachten von Sternschnuppen. Heute Abend machen sich die allerdings rar, dafür kann - Südhimmel sei Dank! - erstmals am Nachthimmel der bei uns nicht zu beobachtende Canopus gesichtet werden, der hier beeindruckend strahlend gemeinsam mit Sirius und Rigel ein charakteristisches Dreieck bildet ...

Der nächste Morgen hält eine Überraschung für uns bereit: Als wir wieder vor der Tür der Taverne stehen, erblicken wir einen Aushang mit den Öffnungszeiten. Der Sonntagmorgen ist nicht dabei, nein, der ganz Sonntag fehlt: Der ist nämlich hier Ruhetag. Das muss Kim offenbar bei der gestrigen Frage nach einem Frühstück ganz vergessen haben ..!

Hatte Kim wohl vergessen: Sonntag Ruhetag! Parkplatz-Frühstück ist auch ok!

Der "Frühstücksschock" dauert nur kurz: Auf keinen Fall werden wir auf unserer Wiese zwischen den dort fliegenden "Gästen" frühstücken! Wir packen zusammen und fahren mit unserem Camper auf den großen Parkplatz vor der Taverne. Der liegt zwar direkt neben der belebten Durchgangsstraße, auf der heute Morgen schon wieder unzählige Miauis und Grünlinge (Jucys) in verschiedensten Ausführungen vorbeibrettern. Aber alles kein Problem: Das Wetter ist inzwischen hervorragend und die Straße ist weit genug weg von unserem Frühstücksplatz entfernt, so dass sie eher der Unterhaltung beim schmackhaften eigenen Camper-Frühstück dient als zu stören. Und das Tollste: Hier oben mögen auch kaum Sandflies mit uns frühstücken, wir sind also ganz unter uns.

Der heutige Tag beginnt also erfolgreich, was allerdings für die Drei von gestern nicht der Fall zu sein scheint. Mitten im Frühstück sucht uns der Pkw-Camper mit einem seiner beiden Mädels auf: Ob wir ihnen helfen könnten, ihr Auto würde nicht mehr anspringen. Wenig verwunderlich dieser Befund für jemanden, der letzte Nacht beobachten konnte, wie die Drei stundenlang die Beleuchtung ihres Fahrzeugs strapazierten - aber sie hatten hoffentlich wenigstens Spaß dabei ...

Leider können wir nicht helfen und verweisen sie an Kim und John, die sind hier wohl für so etwas zuständig. Als wir schließlich abfahren, sehen wir tatsächlich John, der mit den beiden verschwindet - er wird´s sicherlich richten!


© 2020 J. de Haas