Koffer in Not

... da werden Sie geholfen ...


Als ob eine Rückreise aus Fuerteventura mit einem Knöchelbruch und Sondergepäck nicht schon genug Stress bedeutet - aber dann muss da noch ausgerechnet unser Kitebag spät abends beschädigt auf dem Gepäckband im Münchner Flughafen heranrollen ...

Offensichtlich hat man ihn nicht an einem seiner vielen Griffe irgendwohin gehievt, sondern brutal vorne am Reißverschluss gezerrt!Der Kitebag ist hin ..!

Die Diagnose: Reißverschlussnaht gerissen, Reißverschlussspirale gelöst, eine Niete an den Rollen futsch ... Sieht irgendwie nach einem Totalschaden aus, wie soll das noch jemals repariert werden ..?

Aber immerhin ein kleiner Trost: Wenigstens ist keiner der Drachen verschwunden ...

Nun, nahe des Gepäckbandes befindet sich das Lufthansabüro, das den Schaden aufnimmt. Man erläutert, dass geprüft werden soll, ob eine Reparatur möglich ist. Eine Reparatur? Wer sollte so etwas machen? Doch die freundliche Dame kennt sich aus und verweist uns an die Münchner Werkstätten für Sport-, Sattler- und Lederwaren e.G. in München, kurz auch "Koffermanufaktur" genannt.

Sollte das Gute tatsächlich sooo nah liegen? Inzwischen dazu sogar noch ein kleiner zusätzlicher Hinweis: Wer einen weiteren Weg als wir hat und keinen solchen Gepäckretter in der Nähe, kann sein Gepäck ebenfalls hierher schicken: Mit einer kurzen E-Mail kann man das vorab klären ...

Und tatsächlich: Wir können unseren Kitebag dort zur Reparatur abgeben. Weil uns das so freut und wir auch unsere Leser über diese tolle Möglichkeit informieren möchten, fragen wir vorher an, ob man bei der Reparatur vielleicht dabei sein kann für einen kleinen Bericht in unserem Magazin. Sofort ist man einverstanden und ruft an, als der Kitebag auf den "OP-Tisch" kommt.

Mitten in München befinden sich die Werkstätten, die vor 115 Jahren gegründet wurden. Seit 87 Jahren kümmert man sich hier um Reisegepäck. Einst wurden hier Lederwaren gefertigt, aber wer kann sich heute noch handgefertigtes Reisegepäck leisten? Und so verlagerte man den Arbeitsschwerpunkt auf die Reparatur von Business- und Reisegepäck. Aber auch so manches heißgeliebte antike Lederbehältnis wird hier ebenfalls gut betreut und repariert ...

Ein echter Traditionsbetrieb, bereits der Urgroßvater des Werkstattmeisters Stefan Pohorsky war hier tätig. "Feintäschner" heißt das Handwerk, eine Spezialausbildung im Sattlerbereich. Und auch die Tochter absolviert hier gerade ein Praktikum.

Die Werkstatt ist eng, überall stehen Regale mit Gepäck, das auf seine Reparatur wartet oder auf seinen Besitzer. Dann gibt es hier unvorstellbare Mengen an Ersatzteilen, Scharniere, Griffe, Rollen, Ersatzschalen, Reißverschlüsse, Klappverschlüsse, Nieten usw. Wenn man sich überlegt, dass jeder Hersteller verschiedenste Rollen hat für seine Produktlinien und so ein Koffer dann vier verschiedene Rollen haben kann, die auch noch in Kofferfarbe sind, wird einem klar, dass trotz des großen Lagers nicht alles vorrätig sein kann.

Münchner Werkstätten ... Jede Menge Material ...
Wer einen Gepäckschaden hat, ist deutlich im Vorteil, wenn es sich dabei um Markengepäck handelt. Eine Reparatur von Billigglump aus dem Discounter lohnt sich nicht, auch ist die Beschaffung von Ersatzteilen nahezu unmöglich und wäre unwirtschaftlich. Außerdem sind die simplen Gepäckstücke nicht sehr robust und gehen deshalb auch schneller kaputt. Ihr Kauf rechnet sich also unter dem Strich kaum.

Bei sehr edlen Gepäckstücken kann es vorkommen, dass keine Ersatzteile erhältlich sind (die Firmen wollen damit Produktpiraterie erschweren), aber auch dafür findet man hier Lösungen, denn wer will schon seinen Koffer z.B. nach Paris zur Reparatur senden lassen, anschließend ein halbes Jahr warten und zuletzt den halben Neupreis für eine Reparatur zahlen ..?

Aber wer hier mit Samsonite, Delsey, Rimowa, Travelite oder ähnlichem ankommt, ist gut aufgehoben ...

Ob Stoff, Leder, Holz, Hartschale, Metall: Hier wird genäht, geklebt, genietet, geschraubt, gedengelt und noch mehr.

Nähen am Kitebag im Team ...

Der Kitebag ist in der Enge der Werkstatt echt sperrig. Zunächst wird der Reißverschluss mit der Sattlernähmaschine wieder befestigt. Zwei Mitarbeiter sind notwendig, der eine näht, der andere bändigt den Kitebag. Dann wird die gelöste Reißverschlussspirale von Hand angenäht. Es sind zwar nur einige Zentimeter, aber wenn sich die Spirale weiterlöst, müsste der ganze Reißverschluss ausgetauscht werden und das lohnt sich dann wirklich nicht mehr.

Im Anschluss wird noch die Niete an der Rolle ersetzt: Fertig, der Kitebag ist wieder fast wie neu!

Und nun kommt das Beste zum Schluss: Für einige Fluggesellschaften übernimmt man hier die Abwicklung der Abrechnung - so für die Lufthansa.  Full-Service! Gut, dass der Bestätigungsschein von der Lufthansa dabei ist!

Dass die Abrechnung nicht so ganz einfach ist, erkennt man am Bildschirm. Die maßgeschneiderte Anwendung Repsy erfasst alles, was für die Abrechnung mit den Fluggesellschaften erforderlich ist. Ob etwas repariert wird, hängt natürlich vom Alter und Wert des Gepäckstückes ab. Sind die Reparaturkosten höher, muss der Fluggast den Geldbetrag für den Zeitwert akzeptieren.

Das ist der Anfang vom Untergang eines Reißverschlusses ... ... und wird von Stefan Pohorsky in Handarbeit wieder angenäht ...

Da immer mehr geflogen und immer mehr Gepäck befördert und auch beschädigt wird, scheint das Geschäft mit den Reparaturen zukunftssicher. Aber neue Herausforderungen warten schon auf den Werkstattmeister - das Reisegepäck 4.0!

Da gibt es Koffer mit GPS-Sensoren, die man orten kann, Koffer, die das Handy vibrieren lassen, wenn sie auf dem Förderband in die Nähe des Besitzers kommen, Koffer, die sofort alles verschließen, wenn sich der Besitzer zu weit entfernt und nicht zuletzt Koffer, die selbsttätig hinter ihrem Besitzer her rollen. Wenn da in Zukunft etwas beschädigt wird, kommt zu Nähen, Kleben, Nieten, Schrauben, Dengeln auch noch Löten, und zum Feintäschner auch noch der Gepäckmechatroniker ...


© 2017 Sixta Zerlauth