Von Schiffen und Schornstein-Attrappen

Noch mehr Episoden des Schiffbaus ...

von Bill Lee


Vorwort

Neben ihrer eigentlichen Funktion können auch Größe, Form und Anzahl der Schornsteine eines Schiffes (im englischen Seefahrtvokabular als "funnel" bezeichnet) dessen Gesamterscheinung stark beeinflussen.

Die Schornsteine von Marineschiffen sind in der Regel funktional entworfen, wobei zumeist nur wenig oder keine Rücksicht auf deren Aussehen genommen wird. In der Geschichte von Handelsschiffen und insbesondere von Passagierschiffen wurde dagegen deren Aussehen häufig gezielt auch durch nicht-funktionales Design maßgeblich verändert, indem man in die Aufbauten auch "Schornstein-Attrappen" integrierte.

Derartige Installationen haben gelegentlich bei Betrachtern fast so etwas wie "Erscheinungen" erzeugt. Außerdem haben Schiffskonstrukteure manchmal auf diese Weise auch diejenigen getäuscht, die Ozeandampfer künstlerisch darstellten. Und das zum Vergnügen derer, die mehr darüber wussten ...


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren hochseetüchtige Passagierschiffe weitgehend abhängig von mit Kohle befeuerten Heizkesseln zur Dampferzeugung mit natürlicher Zirkulation für den Betrieb der Schiffsmaschinen. Aufgrund der seinerzeit bestehenden technischen Einschränkungen waren hierfür zahlreiche Kessel erforderlich, die zusätzlich über hohe Auspuffrohre verfügen mussten, um die Abfallprodukte der Verbrennung abzutransportieren. In der Konsequenz verfügten große Ozeandampfer dieser Ära typischerweise über nicht weniger als vier Ofenrohr-ähnliche Schornsteine.

Ohne ein entsprechendes Wissen brachte die Öffentlichkeit zu jener Zeit eine hohe Zahl von Schornsteinen aber auch mit höherer Geschwindigkeit und Mächtigkeit der jeweiligen Schiffe in Zusammenhang.

TITANIC: Der vierte Schornstein ein Fake! Der Künstler lässt auch die Attrappe qualmen ...

Als es darum ging, die TITANIC zu entwickeln, war die Kesseltechnologie bereits so weit fortgeschritten, dass nur noch drei Schornsteine benötigt wurden, um die Abgase ihrer 29 Kessel an Bord zu entsorgen, von denen sich die meisten ganz unten in der vorderen Hälfte des Rumpfes befanden (Querschnitt oben links). Allerdings hatten zu dieser Zeit fast alle der wichtigsten Hochseedampfer der Konkurrenz noch vier Schornsteine.

Aus diesem Grund wurden die TITANIC und ihre Schwesterschiffe ebenfalls noch mit einem vierten Schornstein ausgestattet. Ziemlich weit hinten im Schiff und oberhalb der Ebene der Maschinenräume gelegen, bestand dessen einziger Nutzen darin, einen Abgaskanal für die Belüftungssysteme der Maschinenräume und die Dämpfe der Bordküchen zu schaffen.

Nichtsdestotrotz aber war die vierte Attrappe wie auch die drei funktionsfähigen Schornsteine eine ebenfalls beeindruckende Installation, die außerdem auch zur Ausgewogenheit der Gesamterscheinung des Schiffes beitrug.

Mit fast 19 Metern Höhe und 7 Metern Durchmesser konnte man die Attrappe eigentlich geradezu als "gigantische" (englisch: "titanic") Fälschung bezeichnen. Der Künstler, der später die letzten Minuten der TITANIC bildlich darstellte, wusste offensichtlich nichts von diesem Sachverhalt, denn er stellte das Schiff dar, wie es mit Qualm aus allen vier Schornsteinen versank (Bild oben rechts) ...

Die TITANIC war vielleicht oder aber auch nicht das erste große Schiff, das mit einer Schornstein-Attrappe ausgestattet wurde, aber sie war mit Sicherheit nicht das letzte. Diese Praxis wurde noch jahrzehntelang fortgesetzt und ist sogar gelegentlich in zeitgenössischen Schiffsdesigns erkennbar. Hierfür einige Beispiele im Folgenden.

NORMANDIE: Schornstein-Attrappe hinten Auch bei diesem Künstler qualmt sie überall ...

Einer der größten und schönsten Ozeandampfer, die jemals gebaut wurden, die NORMANDIE der französischen Reederei Compagnie Générale Transatlantique (CGT, im Ausland auch als "French Line" bezeichnet), hatte ebenfalls eine Schornstein-Attrappe. Wie bei der TITANIC befanden sich auch deren Kessel ziemlich weit vorn und achtern, also im hinteren Bereich, deren Maschinenräume. Der Sockel der Schornstein-Attrappe diente zur Unterbringung der Lüftungsanlage, aber der obere Teil bestand lediglich aus einer Metallfassade, die nach oben hin komplett offen war, wie das Bild oben links zeigt. Auch die Tatsache, dass auf Fotos von ihr nie Qualm zu sehen war, der aus dem hinteren Schornstein stieg, konnte einen unbekannten Künstler nicht davon abhalten, das Postkartenbild oben rechts zu erschaffen ...

Mehrere amerikanische Schiffe wurden ebenfalls mit Attrappen-Schornsteinen ausgestattet: In den späten 1920er Jahren baute die Werft Newport News Shipbuilding (NNS) drei Schiffe für die International Mercantile Marine Company. Die CALIFORNIA, VIRGINIA und PENNSYLVANIA (NNS Rumpfnummern 315, 326 und 329) hatten jeweils ursprünglich zwei schmale Schornsteine, der hintere war dabei jeweils eine Attrappe, also ein "Dummy"-Schornstein (Bild unten links).

1937 wurden diese drei Schiffe an die Moore-McCormack Lines Inc. für die Verwendung im Handel mit Südamerika verkauft. Als "Gutnachbarliche Flotte" bezeichnet wurden sie entsprechend umbenannt und überholt als URUGUAY, BRAZIL und ARGENTINA. Beide Schornsteine wurden dabei entfernt und durch einen einzelnen größeren sowie stromlinienförmigeren Schornstein ersetzt (Bild unten rechts).

CALIFORNIA und Schwestern: Ursprünglich zwei Schornsteine, hinten Attrappe URUGUAY und Schwestern: Nach Umbau und Umbenennung nur noch ein Schornstein

Vier nahezu identische Schiffe, die in den 1930er Jahren für die Reederei Grace Line gebaut wurden, hatten jeweils zwei Schornsteine; einen funktionsfähigen und eine Attrappe. Diese Konstruktionen von William Francis Gibbs trugen den Spitznamen "Santa Schiffe" und verfügten über einen innovativen vorderen (funktionsfähigen) Schornstein. 

An Deck der "Santa Schiffe"Dieser hatte eine Grundform, die im Querschnitt wassertropfenförmig war und damit vorn über eine klassische Rundung verfügte, die sich nach hinten verjüngte. Auf diesem Sockel befand sich eine sogenannte "Sampan-Konstruktion", die wiederum aus einer vorn gerundeten Kappe bestand und aus nach hinten quadratisch überstehenden Flossen, ähnlich einem Flugzeug-Leitwerk (Bild rechts).

Ebenfalls tropfenförmig im Querschnitt wirkte die hintere Schornstein-Attrappe "abgesägt" an der Spitze, hinter der Metallhülle waren die Belüftungssysteme und die Maschinerie der Personenfahrstühle untergebracht.

Das unverwechselbare Aussehen der vorderen Schornsteine  der "Santa Schiffe" wurde schon bald von Mr. Gibbs beim Entwurf der SS AMERICA (NNS Rumpfnummer 369) sowie der SS UNITED STATES für die United States Lines wiederholt.

Allerdings waren die beiden Schornsteine der AMERICA ursprünglich deutlich kürzer und ihr hinterer Schornstein der einzige funktionsfähige. Die vordere Attrappe wurde hauptsächlich hinzugefügt, um ein ausgewogeneres Gesamtbild des Schiffes zu gewährleisten (Bild unten). Dennoch aber diente auch der Sockel dieser Attrappe letztlich einer praktischen Verwendung: Der Diesel-Notstromgenerator und die Akkumulatorbatterien des Schiffes wurden hier untergebracht.

AMERICA: Zwei Schornsteine für den Gesamteindruck ...

AMERICA mit verlängerten Schornsteinen

Nach Probefahrten auf See wurden beide Schornsteine um mehr als viereinhalb Meter verlängert, um zu verhindern, dass sich der Abgasqualm der Kessel auf den offenen Passagierdecks des Schiffes verteilen konnte. Diese Änderung veränderte die Gesamterscheinung des Schiffes in erheblichem Maße (Bild oben).

Die Kombination mit einem nun größeren vorderen (und nicht funktionsfähigen) Schornstein kam dem Schiff während des Zweiten Weltkriegs auf eine von seinem Designer völlig unerwartete Weise zu Gute: Nach der Umwidmung zum Marinetransporter USS WEST POINT konnte man einen Entfernungsmesser zur Geschützsteuerung sowie einen Ausguck an der Spitze der vorderen Attrappe in einer Nische installieren, der von der Marinebesatzung oft als "Stählernes Fuchsloch" bezeichnet wurde (Bild unten links). Der Zugang zu diesem Platz erfolgte über eine lange, angeblich wackelige senkrechte Leiter, die sich in der Mitte der inneren Verstrebung des falschen Schornsteins befand (Bild unten rechts).

USS WEST POINT mit "Stählernem Fuchsloch" Leiter in der Schornstein-Attrappe

USS WEST POINT: Künstler mögen qualmende Schornsteine ...

Trotz zahlreicher Fotos der WEST POINT, die deutlich deren militärische Anlage auf ihrem vorderen "Schornstein" zeigten, hörte seinerzeit mindestens ein Künstler "nicht die Signale" und schuf das in anderer Hinsicht korrekte Bild des Schiffes auf See ... aber mit Qualm, der aus beiden Schornsteinen strömt (Bild oben) ...

Nach dem Krieg, als das berühmte Schiff in Friedenszeiten wieder seine Rolle als "Königin der amerikanischen Handelsmarine" fortsetzen konnte, wurden alle Spuren seines einstigen "Stählernen Fuchslochs" wieder entfernt. Lediglich die senkrechte Steigleiter blieb an Ort und Stelle, um bei Wartungsarbeiten den Zugang zur Dampfsirene zu ermöglichen, die sich nahezu vollständig innerhalb der Schornstein-Attrappe befand.

Viel später, im Zwielicht der Geschichte dieses Schiffes im Jahr 1978, wurde der größte Teil der vorderen Schornstein-Attrappe wieder entfernt, und das - Ironie der Geschichte - aus Gründen des Aussehens. Zu dieser Zeit verlangte der gängige Stil des Designs von Passagierschiffen nämlich nur einen Schornstein. Die Schiffseigner entschieden sich dazu, den Sockel der Attrappe stehen zu lassen, um zusätzliche Kosten durch eine Verlagerung des Diesel-Notstromgenerators zu vermeiden. Das visuelle Ergebnis war ganz und gar nicht besonders ansprechend, so dass Bilder in der Werbung derart künstlerisch gestaltet wurden, dass der verbleibende Stumpf auf magische Weise verschwand und auch der Fockmast des Schiffes dabei weiter achtern erschien (obwohl er in Wirklichkeit niemals dorthin versetzt wurde) (Bild unten).

AMERICA wird zur ITALIS: Umgestaltung in Werbebildern ...

Auch während des Ersten Weltkriegs spielten Schornstein-Attrappen eine interessante Rolle: Die Briten setzten als Q-Schiffe bezeichnete U-Boot-Fallen dafür ein, feindliche Überwasserjäger und U-Boote in die Nähe zu locken, um diese dann von verborgenen Geschützen der Q-Schiffe aus anzugreifen. Über 200 gewöhnliche Handelsschiffe wurden dabei geschickt getarnt und auf See geschickt. Diese Schiffe nutzten verschiedene Möglichkeiten, um ihre Waffen zu verbergen und ihr äußeres Erscheinungsbild regelmäßig zu verändern. Attrappen in den Aufbauten sowie von Rettungsbooten wurden ebenso verwendet wie eben - Schornstein-Attrappen. Letztere waren klappbar und konnten schnell abgesenkt werden, um die Geschütze der Q-Schiffe freizulegen.

Geschütz auf einem Q-SchiffDie mit diesem Programm verbundene Geheimhaltung hat verständlicherweise zu sehr wenigen Fotos geführt, die jemals veröffentlicht wurden. Das Bild rechts ist eines der wenigen und zeigt die heruntergeklappte Seite einer Aufbauten-Attrappe, unter der eine sehr beeindruckende Waffe sichtbar wird ...

Diese Trickserei funktionierte eine kurze Zeit lang, aber später entschied sich der Feind in der Regel, außerhalb der vermuteten Reichweite verdächtiger Q-Schiffsgeschütze zu bleiben und stattdessen relativ ungefährdet mit Torpedos und/oder Granaten anzugreifen.

Die vielleicht ungewöhnlichste Anwendung von Schornstein-Attrappen erfolgte ebenfalls durch die Briten: Als im Jahr 1932 die RMS STRATHAIRD und ein Schwesterschiff gebaut wurden, erhielten beide jeweils drei Schornsteine (Bild unten links). Allerdings waren der erste und der dritte Attrappen, nur der mittlere Schornstein war funktionsfähig für die Entsorgung der Kesselabgase. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden sie wieder umgebaut und die Schornstein-Attrappen entfernt (Bild unten rechts).

RMS STRATHAIRD und Schwesterschiff: Drei Schornsteine, zwei Attrappen! RMS STRATHAIRD und Schwesterschiff: Nur noch ein Schornstein nach Umbau ...

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als viele Handelsschiffe über weit achtern gelegene Dieselmotoren mit Direktantrieb für langsame Fahrt verfügten, wurden deren Auspuffe gelegentlich in etwas versteckt, was wie ein Maststumpf wirkte, aber in Wirklichkeit sehr schmale "Ofenrohre" waren. Aber jedes Schiff musste trotzdem immer noch etwas haben, das unabhängig von seiner Funktion wie ein traditioneller Schornstein aussah, weshalb mittschiffs in der Regel ein großes Schornstein-ähnliches Gebilde installiert wurde. Das zweite Schiff namens BRAZIL der Moore-McCormack Lines ist hierfür ein typisches Beispiel (Bild unten).

Dieser Trend setzte sich bis ins 21. Jahrhundert fort und betraf sogar das nuklear angetriebene Schiff NS SAVANNAH. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Antriebsanlage keinerlei Auspuff benötigte, erhielt auch dieses einen besonders großen Schornstein-ähnlichen Aufbau, der auch als wunderbare Aussichtsplattform diente (Bild unten Mitte).

BRAZIL mit Schornstein-ähnlichem Aufbau

Nuklearschiff NS SAVANNAH

DISNEY MAGIC

Auch heutzutage noch hält sich der Trend, das Image eines mächtigen Schiffes durch die überlegte Verwendung von Schornstein-Attrappen zu fördern. Zwei der letzten Kreuzfahrtschiffe der Disney Cruise Line haben etwas vom "verwegen guten Aussehen" der Luxusliner vergangener Zeiten. Zwei große Schornsteine überragen beide Schiffe, wobei der vordere eine Attrappe ist.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Schiffen, die einst Schornstein-Attrappen hatten, nutzen diese Schiffe heutzutage den Innenraum, den die Attrappen bieten, zur Unterhaltung der Schiffspassagiere. Disneys Teenager-Programm an Bord des Kreuzfahrtschiffes DISNEY MAGIC (Bild oben) befindet sich in der vorderen Schornstein-Attrappe in einem Bereich mit der Bezeichnung "The Stack", der über Hartholzböden, braune Ledersofas, gemauerte Kamine, Teppiche, Sitzsäcke, Zeitschriftenständer und Sporttrophäen verfügt. Schornstein-Attrappen hatten es noch niemals so gut! (Anm. der Red.: Zur Überführung der weiteren Disney-Schiffe DISNEY FANTASY und DISNEY DREAM s.a. unseren Beitrag Schiffüberführungen!)

Nachwort

SS AMERICA mit vorderer Schornstein-Attrappe ...Das Konzept der Schornstein-Attrappen faszinierte mich schon seit langem: Seitdem ich als Jugendlicher überrascht war, als ich erfuhr, dass der vordere Schornstein der AMERICA kein funktionsfähiger war. Jahrelang ging ich davon aus, dass dies etwas Ungewöhnliches und Einzigartiges bei der AMERICA sei.

Aber je mehr ich dazu lernte und je mehr ich mich umsah, desto mehr Beispiele fand ich für die ziemlich weit verbreitete Anwendung dieser recht einmaligen Form der Marinearchitektur. Ich bin sicher, dass ich vermutlich einige weitere Beispiele dieser sogenannten "Kunstform" übersehen habe. Aber ich habe nie beabsichtigt, dass diese Darstellung vollständig (engl.: exhaustive) ist. Warum sollte sie das auch sein? Schließlich strömen (engl.: exhaust) auch Schornstein-Attrappen nichts aus!


© 2008-2022 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin


Anm. der Red.: Weitere Beiträge von Bill Lee finden sich in unserer Autorenübersicht