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Mit der Transsibirischen Eisenbahn eine Teilstrecke nach Kirow

Heute bin ich nun auf dem Weg nach Kirow, ca. 1.000 km östlich Petersburg, ich habe lange überlegt, ob ich die Reise abblasen sollte, aber das Ticket war schon gekauft und was sollte einem sonst noch passieren? Da war selbst mein erster Ausflug nach Petersburg im Jahr 1999 noch glimpflich abgelaufen, anstelle im Hospital aufzuwachen. Ich bin damals 5 Stunden mit in der Straßenbahn im Kreis gefahren und habe kein Geld verloren ...

Draußen sieht es jetzt immer noch aus wie im kalten Winter und der Zug trödelt wie gewohnt durch die grau-weiße Birkenlandschaft. Gegenüber ein junger Mann, Programmierer, schlechtes Englisch, er liebt die deutsche Sprache, "sie sei monumental, eine der härtesten Sprachen", also wie Russisch!

Die Menschen sind etwas irritiert, dass ich als Deutscher mit so wenig Sprachkenntnissen in Russland unterwegs bin. Allerdings meinte am nächsten Morgen eine Schaffnerin, dass ich sehr gut Russisch könne und verstehen würde. Es waren einmal ein Amerikaner und ein Iraner im Zug unterwegs und die hätten überhaupt nichts verstanden ...

Die Ferne kann einen aber nur dann locken, wenn alles in dieser Ferne neu, anders, ja geradezu unverständlich ist. Oder ist es der Hauch von Angst, welcher einen auf so einer Reise ergreift? Um in unkontrollierte Situationen zu gelangen? Um so das eigene wirkliche Leben nochmal zu spüren ..?

Man sagt so, dass in Russland die Dörfer äußerlich und innerlich verrottet wären, aber ist das in Europa nicht ähnlich? Man schaue mal in Ostdeutschland, oder die verlassenen Dörfer in Italien, Griechenland, Spanien ... es wird überall nur mit Wasser gekocht! Aber die Städte wachsen weiter, werden immer teurer, auf diese Weise schon wird die Zweiteilung vorangetrieben. Die Sklaven, Dienstleister in den Städten, in billigen Randgebieten dahin vegetierend, und die Reichen lassen sich bedienen ohne Ende und mit steigender Arroganz ...

Internet ist relativ schwierig zu bekommen, nur in den Hotels in Petersburg geht es, ansonsten muss man sich mit einer russischen Telefonnummer registrieren, um WLAN oder WiFi zu empfangen, aber oft geben einem auch die Leute mit ihrem Telefon einen Hotspot oder wie man das nennt, also verbinden ihr Telefon mit meinem, damit ich Internet bekommen kann und haben also keine Angst, dass ich als Ausländer eine Gefahr für sie darstellen könnte.

In Petersburg sind viele Menschen schon oft nach Westeuropa gereist, und das eigentlich Wesentliche, was sie jetzt vom Krieg mitbekommen, ist, dass ihnen der Weg in den Westen nun versperrt ist. Umso verwunderter sind sie, dass ich aus dem Westen noch so einfach nach Russland reisen kann. Eine Frau im Zug hat drei Monate auf ihr Transit Visum für eine Fahrt mit dem Zug durch Litauen nach Kaliningrad gewartet, sie zeigte mir auch den Ausdruck mit Stempel, als ich ihr erklärte, dass ich in vier Tagen das Visum für Russland über das Internet bekommen hätte - Gerechtigkeit?

Diskussionen

Der Zug nach Kirow ist rappelvoll, das Restaurant leer und die endlosen Birkenwälder säumen den Wegesrand der Strecke ...

Ich gerate in die Diskussion mit den Leuten im Waggon, ich sage, es gibt das europäische Russland und das asiatische Russland, auf alten Karten aus der Zarenzeit überall zu finden. Nein, meint jemand, das wäre immer nur ganz Russland, ja, sage ich, es gab keine politischen Grenzen, aber die Unterteilung war immer zu finden. Er hat recht, ergänzt jemand, Kirgistan, Kasachstan, Armenien ... das war und ist asiatisches Russland ...

Dann die Frage zu Putin, wie ich das sehe, wie man in Deutschland das sieht. Die Diskussion lebt auf im Zug, es wird lauter, man merkt, die Meinung ist geteilt. Eine alte Frau fragt den anderen patriotischen Russen, kennst du eigentlich den deutschen Präsidenten? Nein, meint jemand, was sollte ich. Scholz heißt er, sagt sie, keine Ahnung, aber sie ergänzt weiter, erst war Merkel, dann war Scholz. Der eine meint, Putin wäre Russland, da höre ich einige andere Leute murren und ich sage auch, Russland ist nicht nur Putin. Dann zeigt die alte Frau auf ein verdecktes Abteil, mit einer Decke verhangen, hebt den Zipfel auf, und meint mit großem Humor, das ist bestimmt der FSB. Und es ist wirklich jemand dahinter ...

Einer meint noch, vor ein paar Jahren waren die Grenzen zwischen Kasachstan und Russland offen, das heißt, man konnte mit einem Motorrad oder Trecker durch die Wälder fahren und dann in Kasachstan ankommen. Jetzt seien die auch alle kontrolliert ...

Der Zug ist sehr modern, aber immer ist noch der Samowar im Mittelpunkt, heißes Wasser muss jederzeit zur Verfügung stehen. Die Toiletten sind erstaunlich sauber, immer mit frischem hochwertigen Klopapier versehen. Da kann die Deutsche Bahn noch dazulernen, vor allem, was die exakte Pünktlichkeit betrifft ...

Allerdings sind alkoholische Getränke verboten, nur im Restaurant erhältlich und ca. für den doppelten Preis wie im Supermarkt. Auf Nachfrage kann ich im Restaurant mein mitgebrachtes Essen verzehren, wenn ich dort ein Bier kaufe.

Essen liegt ebenso bei um die fünf bis sieben Euro, tja - früher war das Trinken von harten alkoholischen Getränken verboten, heute alles Alkoholische, aber es gibt Ausnahmen. Der eine Mann trinkt Cognac die ganze Zeit aus mehreren kleinen Flaschen, er bietet mir auch was an, aber aufgrund meiner vorangegangenen Katharsis lehne ich mit dem Hinweis darauf dankend ab. Ich trinke zuerst ein Bier im Restaurant, dann eines bei der Pause auf dem Bahnsteig. Die Schaffnerin meint, ja, aber aufpassen wegen der Miliz, und nach ein paar Minuten kommen drei Polizisten vorbei, schauen skeptisch auf meine Dose in der Hand, aber dann meint die Schaffnerin, das ist in Ordnung, ich wäre Deutscher und als Tourist zu Besuch. Später habe ich noch zwei Dosen Bier im Gepäck, das  ich dann auch unbescholten im Zug trinke ...

Der junge Mann um die 30, der ein wenig Englisch konnte, war ein Jahr in der Armee. Er weiß nicht, ob er wieder eingezogen wird, er hofft nicht. Er hat keine Kinder, ist aber verheiratet, er meint, dies wäre nicht mehr die Zukunft für Kinder, deshalb hat er sich lieber nur einen Hund angeschafft. Er hört gerne die deutsche Gruppe Rammstein, er kennt Nietzsche und ist aber eher Nihilist, das heißt, er glaubt nur an ein einmaliges Leben. Nun, dann haben wir noch ein wenig weitere Musikgeschmäcker ausgetauscht und ich empfahl ihm noch Spliff bezüglich des einen Lebens. Dazu den Textausschnitt vom Lied Herzlichen Glückwunsch:

"Irgendwann im Keller
Glaubt ein junger Mann
Daß Benzin allein nicht brennen kann

Schau rauf zum Himmel diese Sterne
Sie seh’n aus wie Stroh
Komm laß sie uns verbrennen
Ich will es so"

Warum tue ich mir das alles an? Weil ich eintauchen möchte in die Tiefe des Lebens der Menschen, und doch werde ich immer auf die pragmatischen Fragen zurückgeworfen, die mir genau das Leben der Menschen fragwürdig und langweilig machen. Ein Ausweg gibt es nicht, das sieht er übrigens genauso wie ich, keine Religion, Nihilismus. Wenn Russland über diese Stufe hinauswächst, wird es interessant oder besonders gefährlich. Was bleibt vom Denken? Die Tatsache, durch Gespräche wie mit kleinen Steinen in den großen weiten See zu werfen, und somit etwas geringfügig zu verändern. Anregungen zu geben zum Verständnis vom menschlichen Dasein und eventuell auch vom gesamten Kosmos. Und zu erklären, dass wir immer wieder uns selbst durch Nationalismus, Religion und Gier zerstören ...

Auto waschen und E-Zigaretten, wie klein gedacht das ist, sieht man nämlich in Russland an jeder Ecke. Wir wollen uns mit Waschmitteln reinwaschen und bauen eine Fassade, in der wir selten wirklich sind. Bezüglich Russland sind die Empfehlungen der Menschen im Zug, ich sollte den Baikalsee, das Altaigebirge und vor allen Dingen Kamtschatka besuchen. Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Alter dazu kaum noch in der Lage sein werde. Dann halt mal wieder gute Nacht ...


© 2024 Michael Gallmeister