Tag 1: Am letzten Vorposten der Zivilisation

Bei meiner Ankunft am Donnerstag am späten Nachmittag in Käringsjön war noch wunderschönes Herbstwetter. Der ehemalige Einödhof besitzt inzwischen einen bescheidenen touristischen Service, es gibt ein paar einfache kleine Hütten zu mieten und einen kleinen Kanuverleih. Auch die Zufahrt, die vor Jahren nur ein besserer Wanderstieg war, ist nun gut befahrbar. Hier ist der letzte Vorposten der Zivilisation, bevor es ins 500 qkm große Naturreservat ohne Straßen und fahrbare Wege geht. Um heute noch zu starten, war es schon zu spät und so mietete ich mir für eine Nacht die besagte kleine Hütte "Lillebo", um mir das Zeltaufbauen zu ersparen. Am Starttag gibt es genug Rödelei, bis alles verpackt und verstaut ist, da muss das mit dem Zelt nicht auch noch sein ...

Zufahrt nach Käringsjön, viel besserer Zustand als noch vor ein paar Jahren ... Erster Blick auf den Startplatz, hier genau ist auch die Quelle des Göta Älv ...

Tag 2: Warten, bis es losgeht ...

Am nächsten Morgen war der Himmel völlig zu und es begann bald wie aus Kübeln zu schütten: Na gaaanz Prima! Da ich keine Lust hatte, schon völlig durchnässt die Tour zu beginnen, nahm ich die Hütte gleich noch für die nächste Nacht und nutzte die Zeit, die Ausrüstung optimaler zu verpacken. Bo, der hier mit seiner Frau und einer kleinen Tochter lebt und wirtschaftet, tröstete mich mit der Wettervorhersage, Samstag solle es kalt und trocken und auch wieder sonniger werden. Schmunzelnd nahm ich das "kalt" zur Kenntnis, es hatte doch jetzt schon nur maximal 8°C! Ich würde also mein neues, mit einem Holzofen beheizbares Zelt gut brauchen können ...

Ich hatte genug Zeit und so war es kein Drama, noch einen Tag länger zu warten. Für die Tour hatte ich ein Zeitfenster von etwa 10 - 12 Tagen angesetzt und da kam es auf einen Tag weniger nun wirklich nicht an. Ich hatte eigentlich kein festes Ziel, wollte nur abtauchen in die Natur und bleiben, wo und solange es mir gefiel und es halt stressfrei angehen. Falls machbar, wollte ich aber versuchen, den großen zentralen See, den Rogen zu erreichen.

Die späte Jahreszeit - das Rogengebiet liegt auf 750-790 m Höhe, was in unseren Breiten vegetationsmäßig schon über 1000 Metern entspricht - birgt   aber auch ein gewisses Wetterrisiko. Allgemein heißt es aber, dass es noch möglich ist, hier bis Ende September zu paddeln und zu wandern. Da es im Moment in Lappland schon schneite, war es aber wohl nur eine Frage der Zeit, bis hier in Jämtlands Län auch der erste Schnee fiel. Die ersten Frostnächte waren allerdings schon vorbei und so erwischte ich zu meinem Glück die "ruska", wie in Schweden die farbenprächtige Herbstfärbung genannt wird, in vollem Gange. Und ganz ehrlich, so in der gemütlichen kleinen Hütte mit dem bullernden Ofen und Blick auf den See, auf dem ich morgen meine Tour beginnen würde, das hatte schon was.

Bo zeigte mir einen Pfad, auf dem ich in einer kleinen Wanderung einen etwas über 900 Meter hohen Berg besteigen konnte mit einer fantastischen Aussicht über das vor mir liegende Seenlabyrinth und den großen Rogensee dahinter. Trotz des Regens machte ich mich auf den Weg und es war eine wirklich tolle Aussicht, wenn auch leider durch die Regenschleier und Wolken eingetrübt. Auch die Farben im niedrigen Wald und erst auf dem Fjell waren die nasse Mühe wert. Auf dieser kleinen Wanderung hatte ich auch meine erste hautnahe Begegnung mit den hier frei herumlaufenden Rentieren ...

Die Farben im Fjell ... Die ersten Rene traf ich beim Anstieg ... Seenlabyrinth im Rogenreservat, der Rogen ist nur als heller Strich vor den Hügeln zu erkennen ...

Tag 3: Die Wildnis ruft ...

Na also, es geht doch, um 07:15 Uhr aufgestanden und die ersten Sonnenstrahlen stachen schon hinter einem der umliegenden Berge in den Himmel. Nebel wallte im Fjell und ich machte mich sofort daran, alles zum Boot zu tragen, das ich schon am Vortag ans Wasser gelegt hatte. Und wie immer sah es so aus, als würde die Ausrüstung nicht hinein passen.

Der Startkanal durch das verlandende Ufer des Käringsjön ...Und genau wie sonst auch ging es dann doch irgendwie: Dieses Boot, ein Solo-Canadier von "Indian Canoe", den mir ein Freund geliehen hatte, kannte ich bislang nur von Tagestouren und ich hatte mich schon (wie ich meinte) eingeschränkt mit meinem Gerödel. Nun, am Ende hatte ich doch alles mehr oder weniger sinnvoll untergebracht, das Boot schwamm immerhin noch und um 09:15 Uhr ging es endlich los ... (Höhe 790 m, N62° 21.205’, E012° 28.269’).

Der See, den ich erst nach Durchpaddeln eines kleinen natürlichen Kanals erreichte, der sich durch die schon stark verlandende Uferzone des Käringsjön windet, lag fast spiegelglatt. Ich zog erst ein paar Mal das Paddel kräftig durch, um ein Gefühl für das voll beladene Boot zu bekommen. 

Kaum hatte ich die ersten paar hundert Meter zurückgelegt und die Häuser von Käringsjön waren hinter einer Biegung verschwunden, packte mich wieder dieses schwer zu beschreibende Gefühl von Wohlbehagen mit gespannter Erwartung und einer leichten Erregung. So ganz ungefährlich war diese Tour im Alleingang ja nicht ... 

Der Blick auf das umliegende, in voller Herbstfarbenpracht stehende Land und der Kontrast der gelb leuchtenden Birken mit dem stahlblauen Wasser ließ mich aufjuchzen: So etwas bekommt man nicht alle Tage in solcher Pracht zu sehen! 

Aber der Juchzer blieb mir fast im Halse stecken, als die ersten 1,5 km vorbei waren und mir bewusst wurde, was nun auf mich wartete: Die erste und auch längste Portage dieser Tour stand an (Höhe 790 m, N62° 20.561’, E012° 26.903’).

Gibt es hier Packesel ..?

Ich wollte vom See "Käringsjön" in den "Hån" überwechseln, dazwischen liegen zwei kleine Höhenrücken und ein Sumpf. Als ich gerade anlandete, kamen aus dem Wald zwei urig gekleidete Paddler, als solche erkennbar an den Stechpaddeln und zwei riesigen Rucksäcken, die sie trugen. Sie machten wohl gerade den ersten Gang ihrer Portage und mussten nun zurück, um das nächste Gepäck oder das Boot selbst zu holen. Einer packte sich sofort meine Bugschlaufe und zog mein Boot halb auf das sumpfige Ufer hoch. 

Fast zu schön um wahr zu sein ...Das war eine große Hilfe, die nassen Füße wären sonst vorprogrammiert gewesen. Wie hier draußen üblich, wird nicht nur gegrüßt, sondern man fragt nach dem Woher und dem Wohin und ob es irgend welche Probleme im weiteren Verlauf gibt usw. Wie sich gleich herausstellte, waren die beiden Schweden und recht überrascht, um diese Zeit hier einen Deutschen allein anzutreffen. Mein Schwedisch ist beileibe nicht perfekt, aber für eine Unterhaltung reicht es allemal. Die Überraschung war dann auf meiner Seite, denn einer der beiden war Herr Hilleberg Senior, der Hersteller und Entwickler der bekannten schwedischen Hightech Zelte!

Nach einem kleinen Plausch packten sich die beiden wie selbstverständlich meine beiden Rucksäcke und die zwei Tonnen, ich schnappte mir meinen Zeltsack und zwei Packsäcke und los ging es: Der sehr steinige und holprige Weg führte zuerst etwas bergan durch einen lichten Wald und dann musste man durch einen etwa 100 Meter breiten Sumpf. Irgend wann hatte dort einmal ein primitiver Knüppelsteg lang geführt. Das war aber längst Geschichte und nur noch ein paar halb versunkene und verfaulte Holzstücke zeugten von der einstigen Möglichkeit, trockenen Fußes da hinüber zu kommen. Die beiden Schweden trugen - wie hier üblich - Gummistiefel und patschten problemlos mitten durch. Ich Depp hatte dagegen meine Gummistiefel in Deutschland vergessen, und auch der innige Wunsch, einmal wie Jesus übers Wasser wandeln zu können, half da überhaupt nicht ... 

Geschafft: Nach 8 x 800 Metern tragen liegt alles am Ufer des Hån ...Gnadenlos lief mir das Wasser in die neuen Treckingschuhe: Nur nichts anmerken lassen, hoffentlich hörte man das Quatschen in meinen Schuhen nicht zu sehr. Es ging danach wieder einen Stolperpfad hoch und dann endlich erreichten wir das auch sehr sumpfige Ufer des Hån (Höhe 778 m, N62° 20.400’, E012° 26.717’).

Alles wurde abgelegt, die beiden schulterten ihren Canadier und ich konnte mich nur durch das Tragen des Ersatzpaddels revanchieren. Nun alle wieder zurück und da ich eh schon in den Schuhen schwamm ... egal, durch und weiter. 

Wir verabschiedeten uns, die beiden wünschten mir eine "good tour" und paddelten weiter in Richtung Käringssjön und dem Ende ihrer Tour entgegen. Ich machte dann noch drei weitere Gänge, was bei einer Strecke von jeweils rund 800 Metern letztendlich einen Fußmarsch von insgesamt 6,4 km bedeutete, bevor ich wieder aufs Wasser kam ...

Das ist "Wasserwandern" ...

Auf dem Hån konnte man leider auch nur einen knappen Kilometer paddeln, dann folgte eine etwa 300-400 Meter lange Treidelstrecke durch den Abfluss eines kleinen namenlosen Sees in den Hån. Bei gutem Wasserstand kann man hier fast problemlos durchpaddeln (Höhe 774 m, N62° 20.312’, E012° 26.509’).

Durch den leider ziemlich niedrigen Wasserstand ragten jetzt hier aber Felsbrocken von 20-30 cm Höhe aus dem Wasser und ich hatte eine gute Stunde zu tun, bis ich von Stein zu Stein kraxelnd das beladene Boot über die Steinbarrieren am Einlauf in den Hån und nach dem Treideln am Ablauf aus dem namenlosen See gehoben und gezogen hatte (Höhe 776 m, N62° 20.344’, E012° 26.397’).

Über die Steine rüber: Dahinter beginnt der treidelbare Wasserlauf ...Der dazwischen liegende Wasserlauf ließ sich ja zum Glück mit Treideln überwinden. Man könnte da auch paddeln, es lohnt aber nicht wirklich. Da ich immer noch nasse Füße hatte, kam es nun auch nicht mehr darauf an, wenn ich mal abrutschte und wieder im Bach stand ...

Hier zeigte sich nun deutlich einer der Unterschiede einer Solo- zu einer Tandemtour: Die ganze Schlepperei auf zwei Personen verteilt ist schon deutlich weniger anstrengend. 

Aber so hatte ich das Erfolgserlebnis und den Genuss dieser Wildnistour ganz für mich alleine. Natürlich ist das Teilen solcher Erlebnisse auch etwas sehr schönes, aber solo ist so etwas wesentlich intensiver und man lotet auch immer ein wenig seine Grenzen aus.

Auch dieser namenlose See ließ mich leider nur wieder etwas mehr als einen Kilometer paddeln und schon war wieder eine Portage angesagt: Hatte ich  eigentlich schon betont, das dies mein Urlaub war und kein Straflager ..? 

Diesmal ging es in den ein paar Meter höhergelegenen Krattelsjön (Höhe 776 m, N62° 20.631’, E012° 25.397’).

Es war nicht weit, vielleicht 30-40 Meter, aber ich musste doch wieder das Boot völlig entleeren und so langsam kam doch ein klein wenig Unmut auf: Vor vielen Jahren gab es an dieser Stelle eine primitive Balken- bzw. Knüppelrutsche, über die man Boote mit festen Rümpfen auch beladen ziehen konnte. Alles war nun verrottet und unbrauchbar. Aber nachdem ich im Anschluss an die Schlepperei eine kleine Pause gemacht hatte und mir die Sonne wieder auf den Pelz brannte - bei einer Schattentemperatur von deutlich unter 10°C schon ein Genuss - ging es mir wieder besser. Nach einer fast akrobatischen Einsteigeaktion, die mich ehrlich gesagt um ein Haar kentern ließ, paddelte ich munter weiter auf dem nun deutlich größeren Krattelsjön (Höhe 778 m, N62° 20.635’, E012° 25.711’).

Der Einstieg in den Krattelsjön ... Blauer Himmel, Sonne und die "ruska", die farbenprächtige Herbstfärbung ...

Ich hatte im weiteren Verlauf einige Probleme mit dem Auffinden der Umtragegestelle in den Uthussjön: Es gab keine Markierung und so kreiselte ich gut anderthalb Stunden herum, bis ich die Stelle endlich fand. Auch hier sind die Ufer teilweise so steinig, dass bei niedrigem Wasserstand das Anlegen ein kleines Abenteuer werden kann. Die Steine hier bestehen aus extrem hartem Fels und sind kaum verwittert. Es gibt keinerlei rundgeschliffene Kanten, nur scharfkantige und materialaufreibende Felsbrocken (Höhe 776 m, N62° 20.959’, E012° 24.745’).

Und dann folgte wieder einmal das Boot ausladen, die Ausrüstung zur neuen Einsetzstelle bringen und ... nein nicht ganz, es war inzwischen 16:00 Uhr geworden und das Wetter spielte auch nicht mehr richtig mit: Dunkle Wolken schoben sich langsam über den Himmel und es wurde immer windiger. Zeit also, das Lager aufzubauen! 

Auf dem steinigen Boden - das Rogengebiet ist eine riesige Moränenlandschaft - war es gar nicht einfach, eine Stelle zu finden, um mein mit 3 x 2,20 m doch recht großes Pyramidenzelt aufzustellen. Aber ich hatte Glück und fand ganz in der Nähe eine schöne Stelle unter einer riesigen knorrigen Kiefer mit Sicht auf den Uthussjön. Ein kleiner Hügel und die dicke Kiefer auf der Zeltrückseite ergaben einen guten Windschutz, da der Wind aus Richtung Krattelsjön kam. Es war eine fast ebene Fläche und so konnte ich problemlos in wenigen Minuten meine "Ersatz-Kohte" aufstellen.

Da sich der Wind immer stürmischer entwickelte, brauchte ich gar nicht daran zu denken, draußen zu kochen. So baute ich meinen kleinen Holzofen direkt im Zelt auf, dafür hatte ich es ja schließlich extra modifiziert. Später am Abend begann es auch noch zu nieseln und bei 4-5°C wurde es mit dem starken Wind nun doch sehr ungemütlich im Freien ...       

Ein schöner Lagerplatz ..! Mein Zelt ist 2,05 m hoch, ein Zwerg neben der mächtigen Kiefer ... Blick zurück auf den Krattelsjön ...

Ich sammelte noch schnell einen Vorrat an Holz, bevor alles richtig nass wurde. Da mein Ofen gerade mit kleinen Ästchen und Zapfen sehr gut brennt, hatte ich keine Probleme, genügend davon zu finden: Dieses Kleinzeug lassen andere, die Holz für ein "richtiges" Lagerfeuer suchen, immer liegen. 

Danach begann der gemütliche Teil des Tages, bald brannte der Ofen, drum herum standen die Schuhe und in der Zeltspitze hingen meine feuchten Socken zum Trocknen. Auf dem Ofen kochte schon bald ein Kessel Wasser und als ich erst einmal mit einer dampfenden Tasse Kaffee im wenigstens 25°C warmen Zelt saß wusste ich, dass sich die Anschaffung des Zeltes und der Umbau zur Ofentauglichkeit wirklich gelohnt hatte.

Im Laufe des Abends wurde es immer stürmischer und regnerischer, aber ich saß im T-Shirt und Shorts in meiner warmen Muckelbude und konnte mir, da im Zelt mit fast 7 qm ausreichend Platz ist, auch noch problemlos mein Abendessen kochen. Mit dem Schreiben meines Reisetagebuchs verging die Zeit und gegen 23:30 Uhr ließ ich den Ofen ausbrennen, krabbelte in den Schlafsack und lauschte bis zum Einschlafen dem Sturm ...


© 2004 Bernd van Ooy (Lodjur)