Ukraine  Tschernobyl 2017: Folgt mir und ihr werdet überleben!

Reise in eine Welt ohne "uns" ...


"Im August 2017 reiste ich in die Ukraine. Mein Ziel war es in eine Welt einzutauchen, welche nach uns Menschen existiert oder welche bereits vor uns bestand. Ich war nicht auf der Suche nach Abenteuern oder bin dem Zwang der Sensation verfallen. Nein, ich suchte eine Welt, in welcher wir Menschen keinen Platz mehr haben. Eine Welt, welche sich zurück in den Urzustand versetzt hat. Kurz, eine Welt ohne uns. Ich fand diese Welt in Tschernobyl ..."


Willkommen in Tschernobyl!

Zuerst kleideten die Wolken den Himmel in sein dunkles Gewand. Die Sonne, Mutter der Wärme, wurde zurückgedrängt von bösartigem Grau. Seit einiger Zeit fahren wir auf rissigem Asphalt, zu beiden Seiten sehen wir Graslandschaft, zwischendurch ein paar Bäume und ab und zu einige verlassene Häuser mit eingestürzten Dächern.

Das Wetter hat sich seit unserer Ankunft verschlechtert. Die Tage wirkten bedrohlicher als der Sommer, aus welchem wir kamen. Es gibt nichts zu sehen und langsam fallen unser aller Augen zu unter dem hypnotischen Summen des Motors und der unveränderbaren Landschaft um uns herum.

Plötzlich bremst der Bus und wir reißen unsere Augen auf: Eine Schranke taucht aus dem Nichts auf und ein Soldat kommt zu unserem Bus. Wir alle müssen aussteigen und unsere Pässe zeigen. Nach ausgiebiger Kontrolle und strengen Blicken öffnet sich die Schranke und wir dürfen weiterfahren.

Folgt mir und ihr werdet überleben!"Ihr befindet euch nun in der 30 km Zone! Von nun an ist es verboten zu trinken, zu essen, zu rauchen, irgendetwas anzufassen, mitzunehmen oder sich auf den Boden zu setzen, wenn wir aussteigen. Versucht möglichst nichts zu berühren und tragt euren Mundschutz, wenn ihr in einem Gebäude seid. Ich habe einen Geigerzähler und ein zweiter wird an einen von euch verteilt. Bitte verlasst niemals die Gruppe oder geht auf eigene Faust irgendwo hinein. Meine Damen und Herren!? Willkommen in Tschernobyl! Folgt mir und ihr werdet überleben!"

Es ist so etwas wie der 11. September oder die Titanic oder der Tsunami in Thailand in 2004. Und spätestens nach der Katastrophe in Fukushima wurde Tschernobyl wieder in unser Gedächtnis gerufen. Jeder kann mit diesem Namen etwas anfangen. Jeder weiß was es ist. Nicht alle wo es ist. Und die allermeisten wissen nicht welches Ausmaß die Katastrophe angenommen hat. Damals, als die menschenverursachte Katastrophe im Jahr 1986 ihren Lauf nahm, war ich drei Jahre alt. Ich weiß nichts von diesem Ereignis. Ich war zu klein. Später würde man mir erklären, was Atomenergie überhaupt ist und was diese anrichten kann. Für nun 30 Jahre trug ich dieses defizitäres Halbwissen mit mir herum und dachte nie daran, mich damit zu beschäftigen. Ich unterstützte stets den Widerstand gegen Atomkraftwerke und empfand Sympathien für deren Gegener. Auf der anderen Seite genieße ich aber auch den Nutzen, den sie uns liefern. Es ist ein unbedachter Zwiespalt, ein nicht weit genug gedachter Gedankengang, ein lästiges Übel, von welchem wir Menschen heute abhängig sind.

Und dann sah ich das erste Mal Bilder aus der Stadt Prypjat und war fasziniert von dem Gedanken in einer Stadt zu sein, die vollständig verlassen ist. Ich muss dazu sagen, dass mich schon immer Endzeitgeschichten interessiert haben. Verlassene Orte haben einen enormen Sog auf mich ausgeübt und ich wusste, ich werde in meinem Leben einen solchen Ort besuchen. Im Rahmen unserer geplanten Osteuropatour wusste ich, dass wir in der Ukraine Halt machen werden. Dann ging alles recht schnell: Ich suchte nach einem zuverlässigen Reiseveranstalter und buchte einen Tagesausflug in "die Zone".

Erzählt haben wir von unserem Vorhaben nur wenigen, denn wir wussten, wir würden von kaum einer Seite positiven Zuspruch bekommen. Zu sehr ist die unsichtbare Gefahr unterschätzbar, nicht absehbar. Natürlich hätten wir die gleichen Reaktionen bekommen, hätten wir vorgehabt auf den Mount Everst zu steigen oder durch die Antarktis zu laufen. Ein Risiko bringt auch dies mit sich. Nur das dort die Natur "sichtbar" ist und es andere Elemente gibt, die ein Menschenleben vernichten können ...

Verstrahltes Gelände ... Willkommen in Tschernobyl! Prypjat und der Sarkophag ...

Wir befinden uns nun im Jahr 2017. In 1953 stand der erste Mensch auf dem Mount Everest. In 1912 war der erste Mensch am Südpol. Wir waren im Weltall, surfen die größten Wellen und gehen quer durch Grönland und durch andere Wüsten. Was hat der Mensch nicht schon alles unternommen und später sogar regelmäßigen Tourismus daraus entwickelt? Ist es absurd, dass es nicht auch "Atomtourismus", "Strahlentourismus"oder "Radioaktive Touren" geben kann? Wundern müssen wir uns nun wirklich heute über gar nichts mehr und wenn wir es ganz genau nehmen, dann wissen wir alle, dass sich auch bald "Kriegstourismus" entwickeln kann, wenn es ihn nicht sogar schon gibt. "Reisen Sie jetzt mit uns nach Syrien und kämpfen Sie gegen den IS mit eigener Waffe!" "ISReisen", "Aleppo Day Tours" - der Mensch wird sich noch vieles einfallen lassen!

Eine Reise nach Tschernobyl wird von vielen Menschen bewundert, andere kritisieren daran stark. Ich kann beide Seiten verstehen. "Es ist gefährlich!" - Ja, das ist der Weihnachtsmarkt in Berlin heutzutage auch. "Du bist ja lebensmüde! Ich dachte du wolltest Kinder!?" - Wenn ich auf meinen Touren umkomme, dann kann ich auch keine Kinder mehr zeugen. "Das ist Wahnsinn! Da bekommt man Krebs! Keiner weiß wie hoch die Strahlung ist!"

Richtig - und das wissen wir täglich auch nicht oder glaubt ihr etwa alles, was die Medien euch erzählen? Man könnte genauso wieder an den Weihnachtsmann glauben. Andere sagen: "Wow, das würde mich auch interessieren." "Ihr seid echt mutig!", "Das muss wirklich spannend sein. Wie in einem Horrorfilm! Gibt es da wirklich Mutanten?" - Ja, das ist es alles und nein, wir haben keine Mutanten gesehen ...

Wieviel Strahlung die Erde und wir alle abbekommen haben, wissen wir nicht und werden wir auch niemals erfahren. Fakt ist, dass es die Verseuchung gibt und dass sie einen Einfluss auf uns hatte und auch immer noch hat. Komisch, dass viele unserer Eltern und deren Freunde zu dieser Zeit Mitte 20 waren, heute Mitte/Ende 50 sind und die Krebsrate enorm steigt. Komisch, dass in Büchern und Berichten über Tschernobyl der Ausbruch von Krankheiten bei nicht direkter Einstrahlung auch 20-30 Jahre dauern kann. Und können wir etwas ändern? Aber genug davon - nun sind wir trotzdem hier ..!


© 2018 Dennis Hartke