Russland  Kamtschatka 2018: Ein Besuch in Kozerevsk

Toter Wald und Tolbatschik - Friss Staub!


Alles ist in dichten Nebel gepackt und es weht kein Lüftchen. Ich schnappe mir meinen Rucksack und gehe hinunter zum Treffpunkt. Nach dem Frühstück ist es soweit: Der Truck kommt. Ein orangener Kamaz, voll besetzt mit Alexey, dem lokalen Bergführer und der fünfköpfigen Crew. Der Fahrer springt als Erster hinaus und ich versuche mich an meinen vier russischen Sätzen, die ich beherrsche. Wir - außer mir neun Gäste - laden unser Gepäck in den Truck, dann stellen sich auch die anderen Mitglieder der Crew vor. Sascha und Sascha. Einmal Mann, einmal Frau. Einmal Köchin, einmal Helfer. Das Team ist gerade mal Anfang 20, das heißt, ich bin der Älteste des Teams. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die Tour gut meistern werden ...

In die vulkanische Landschaft ... ... von Kamtschatka ...

Ich besuchte das Dorf Kozerevsk zweimal: Beide Male reiste ich dabei zurück in das Jahr 1989: Damals war ich 6 Jahre alt. Es war das Jahr, in dem die Berliner Mauer gefallen ist. Es war ein Jahr meiner Kindheit, ohne irgendein spezielles Wissen. Ich wollte spielen ...

Ein wenig Wodka zum Einstieg muss sein ...Die Hälfte meiner Kindheit wuchs ich auf dem Bauernhof meiner Großeltern auf. Sie haben 14 Hektar Land, 2 Hunde, 17 Katzen, Rinder, Milchkühe, Bullen und Schweine. Mein Großvater lebt heute leider nicht mehr. Er trieb damals die Rinder und Kühe mit einem Stock auf die Weide. Die Milch tranken wir Kinder direkt von der Kuh und wir spielten im nahen Wald und am See mit den Hunden. Wir bauten uns Baumhäuser, fingen Fische und spielten Verstecken. Wir halfen bei der Heu- und Strohernte, aßen die Maiskolben direkt von der Staude bis wir platzten, und auch die Pflaumen, bis wir Durchfall bekamen ...

Doch etwas davon blieb in Erinnerung: Kozerevsk ist wie der Bauernhof damals im Jahr 1989, außer dass es ein ganzes Dorf ist. In Kozerevsk laufen die Kühe auf dem Fußballfeld der Schule herum und Hunde streunen hinter jedem Besucher her, wovon es hier nicht viele gibt. Wir sind die einzigen Gäste: Zehn Menschen von sehr weit her sind gekommen, um einem der drei Ladenbesitzer das Geschäft seines Lebens zu bereiten. Wir kaufen pro Kopf drei Flaschen Wodka, drei Liter Bier, andere Zigaretten, Berge von Schokolade und was sonst noch zu finden ist. Der Ladenbesitzer kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Für uns ist es Vorrat in der Wildnis, für ihn bedeutet es Feierabend - genug verdient. Er sagt: "Bitte kommt später nochmal wieder."

In Kozerevsk ist keine Straße asphaltiert, es gibt keine Bürgersteige und nichts lässt daran denken, dass hier irgendwann eines Tages mal die Zukunft der Architektur und Infrastruktur ankommen wird. Der Weg ist einfach zu weit, das Material zu teuer, der Wille der Menschen auf Veränderung zu gering. Blickt man sich in Kozerevsk um, so ist unweit der Fluss "Kamtschatka", welcher als Lebensader dient. Es gibt Fisch und noch mehr Fisch. Sieht man in die Gärten, so entdeckt man felderweise Kartoffeln, Kohl, Zucchini, Kräuter, Blumen und alles, was sonst noch wachsen kann - in diesem Dorf wächst es.

Die Häuser sind stets aus Holz, und so ist auch das Brennmaterial für den heimischen Ofen. Es riecht nach Blumen, nach Hitze und der Staub liegt auf unseren Lippen und verklebt unsere Augen. Stellt man sich vor eines der kleinen Holzhäuser, so ragt im Hintergrund die vulkanische Landschaft auf.  Der Kamen, der Kljutschewskaja Sopka und der Tolbatschik: Die höchsten Vulkane Kamtschatkas mit fast 5.000 m Höhe ...

Kozerevsk: Die Häuser sind stets aus Holz ... Entdeckungen in Gärten ... Blumen und Gemüse ... ... und ein Kamaz für die Tour

Wenn ich mir diese Szenerie so ansehe, beginne ich sofort wieder zu schwärmen. Auch wir haben zu Hause unsere Idee der Selbstversorgung begonnen: Zusammen mit unserem Nachbarn bauen wir Tomaten, Melonen, Kürbis, Zucchini, Gurke, Kräuter, Chillis, Paprika und bald auch Kartoffeln an. Im Garten wachsen wild Erdbeeren, Himbeeren, Preiselbeeren und Äpfel (woraus wir Saft pressen). Wir planen gerade den Umbau des Gartens so, dass wir Hühner halten können, backen unser Brot selber und wollen im Winter Käse im Keller lagern.

Dieses Dorf beflügelt meine Vision, sich noch mehr Fähigkeiten anzueignen, um sich selber versorgen zu können: Wir wollen weiter weg vom Konsum, weit weg vom Plastik, wollen anders mit der Erde umgehen als bisher. Es steckt in den Kinderschuhen bei uns und in Kozerevsk ist es nie anders gewesen. Diese Schuhe müssten demnach längst ausgelatscht sein, doch das merkt hier niemand, denn die Schuhe halten ewig, solange man seine Umwelt versteht und zu schätzen weiß ...

Unterwegs im Kamaz ...Mit diesen Gedanken und vollgepackt mit unserem Equipment setzen wir unsere Reise fort in Richtung der Vulkane: Wir durchqueren Wälder sowie reißende Flüsse und kommen letztendlich auf der Höhe der ersten Vulkankegel des Tolbatschik an. Das Areal ist massiv und erinnert an den Mond selbst. Nicht umsonst wurde hier geübt für die Raumfahrt. Wir beginnen die eine kleine Tour auf die lokalen Kegel von nur 300 m Höhe und sehen Mineralien in allen Farben. Eine lebendige Erde offenbart sich direkt vor uns: Wenn wir den Tolbatschik besteigen, können wir in ihr Herz sehen ...

Langsam schreiten wir voran und überblicken das weite Feld der Lavaströme von 1975, können uns das Ausmaß der Zerstörung vorstellen und sind begeistert von der Lebendigkeit der Erde. Auf dem Weg hinunter beginnt es zu regnen und wir setzen unseren Weg zu Fuß fort in Richtung des Camps. Langsam taucht vor uns der Wald auf. Die Bäume flammten damals auf wie Streichhölzer und so steht das unfruchtbare Gerippe des Waldes noch heute da und wird nie wieder zum Leben erwachen ...

Das unfruchtbare Gerippe des Waldes steht noch heute ...Wie in einem Horrorfilm laufen wir durch eine Welt ohne uns, eine Welt nach uns. Wenn jedes Leben erlischt, bleibt nur dies hier zurück - Staub und Knochen. Wenn man Ehrfurcht vor dem Leben tanken will, dann hier im toten Wald. Doch so sehr auch die Atmosphäre erdrückend wirkt, so kommen wir nach einer Weile doch zurück in die Vegetation. Das Camp liegt zwar immer noch im toten Wald, aber hier scheinen sich die ersten Sträucher und Büsche heimisch zu fühlen. Losungen von Rentieren und Bären sind gleich nebenan: Das Leben kehrt zurück. In einem gewaltigen Tornado von Mücken bauen wir unsere Zelte auf und schleichen dann ins Küchenzelt zum Abendessen.

Morgen ist es also soweit: Wir wollen den Tolbatschik erklimmen. 3.085 Meter reiner Vulkan. Bis zum Krater hinauf, um in das Herz der Welt zu blicken. Dafür wird der Wecker bereits um 4:30 Uhr am nächsten Morgen klingeln. Also noch schnell ein oder zwei Gläser Wodka, dann klettern wir alle ins Bett bzw. Zelt. Die Nacht ist kurz, die Geräusche ungewohnt, aber dennoch bekommen wir ein paar Stunden Schlaf ...


© 2018 Dennis Hartke