Tazzarine - Tafraoute

Am Tal des Drâa fällt die Entscheidung über den Fortgang der Reise: Links nach Zagora ist für uns, die wir über keinerlei Geländegängigkeit verfügen, eine Sackgasse. Rechts nach Ouarzazate würde bedeuten, dass der südliche Kulminationspunkt erreicht ist und es ab jetzt - zumindest im Kopf - wieder nach Hause geht. Wollen wir das? Bei einem Thé à la Menthe am Hauptplatz von Agdz treffen wir die Entscheidung: Nein, Richtung Süd ist besser, dann wird, mental gesehen, der Urlaub länger und wir können weiter unseren Träumen vom tieferen Vorstoß bis in die Westsahara hinein nachhängen. Irgendwann einmal.

Entscheidung über den Fortgang der Reise ... Von Agdz Richtung Tazenakht wird kräftig an der Straße gebaut: Ein sahniger Asphalt beschert uns zunächst gutes Vorankommen, doch dann ist der Spaß vorbei und kilometerlang geht es auf Schotterpisten durch die Berge. Das Stundenmittel pendelt sich so bei 30 km/h ein, es geht nur zäh voran. Im Gegensatz zu gestern gibt es heute Berge in Hülle und Fülle, die ja an sich keine schlechte Kulisse darstellen. Allerdings hat man nach stundenlangem Gerappel und Geschaukel keinen Blick mehr dafür, man sehnt nur noch festen Belag herbei, so mies er auch sein mag.

Dann endlich wird die Hochgebirgslandschaft größer und weitläufiger, und schöne Panoramen tun sich hier am Südhang der höchsten Gipfel des Hohen Atlas auf. Die Falten der Gebirge werden im schrägen Abendlicht plastisch herausmodelliert, alles nimmt einen gigantischen Charakter an. Die P32 wedelt jetzt gut ausgebaut durch die Hochtäler, und nur ab und zu muss ein Rußwolken ausstoßender LKW überholt werden, was durch die tief stehende Sonne genau von vorn nicht gerade erleichtert wird. Manchmal muss man einfach darauf vertrauen, dass es hier keinen Gegenverkehr gibt ... Allah wird uns behilflich sein!

Beim Dunkelwerden haben wir die Passhöhe der Atlaskette überwunden, lassen uns noch bis Taliouine rollen und entdecken oberhalb der Stadt ein terrassenförmig angelegtes Camp direkt an der Straße. Nicht unbedingt idyllisch, aber für eine einfache Übernachtung zweckmäßig, zumal wir in dieser rabenschwarzen Finsternis ohnehin keine Alternative haben. Dafür ist es hier, auf der dem Atlantik zugewandten Seite des Atlas nicht mehr so kalt in der Nacht - 10°C gegen Mitternacht, da kann man nicht meckern.

Am nächsten Tag erwarten wir wieder einen landschaftlichen Leckerbissen: Die Fahrt durch die nördlichen Ausläufer des Antiatlas über Igherm nach Tafraoute. In meinem Führer noch als üble Schotterpiste beschrieben, soll sie mittlerweile größtenteils asphaltiert sein - schauen wir mal. Es geht durch völlig einsames Gebiet, nur ab und zu sieht man verstreute Schafe das Gras zupfen. Niemand zuhause. Keine Siedlung, durch die die Straße führt, kein Hirte, keine Lasten tragenden Frauen - wir fragen uns, wo wir hier gelandet sind. Selbst die Wegweiser sind nur auf arabisch und teils handbemalt. 

Erst die letzten Kilometer vor Igherm machen einen etwas belebteren Eindruck und wir stellen fest, dass sich die Kleidung der Menschen hier ändert: Es wird farbenfroher, man sieht mehr Schmuck und die Frauen verschleiern sich nicht mehr zwingend. Man sieht sogar offen getragene Haare, und wir haben den Eindruck, dass in den Gesichtern ein gewisser Stolz erkennbar ist. Als Durchreisender wird man nun auch nicht mehr wie der Weihnachtsmann begafft, sondern das Gehabe auf der Straße weicht fast unserer gewohnten Normalität: "Ein Auto? Wenn schon. Anderes Kennzeichen? Na und. Ein D hintendrauf? Egal."    

... landschaftliche Leckerbissen ... ... und unglaubliche Ausblicke ...

Einmal stehen wir doch im Mittelpunkt: Wir machen gerade am Straßenrand eine Pipi-Foto-Essenspause mit mal wieder einem Blick in die Unendlichkeit, als ein Kleinbus mit etwa 20 Schülern hinter uns hält. Sie alle sind relativ fein angezogen und haben auch gute Manieren - wir tippen auf Privatschule oder ähnliches, die hier einen Ausflug machen. Als sie uns entdecken, gibt es kein Halten mehr: Ein Geschnatter wie auf dem Jahrmarkt, jeder möchte Hände schütteln und mit uns reden, woher-wohin, und unsere Französisch-Brocken reichen hinten und vorne nicht. Aber alles sehr nette und lustige Kinder - Klasse. Der Busfahrer hupt, man wünscht uns "Bonne chance, au revoir", und artig und gesittet entern sie den Bus. Nochmal Abschiedsgehupe, unzählige Arme werden durch die Fenster gesteckt und weg sind sie. Episoden am Wegrand ...

Spätnachmittags sind wir am Ziel unserer Begierde: Tafraoute. Schon die Anfahrt von Igherm - tatsächlich größtenteils auf Asphalt - durch die immer schrofferen Berge bietet unglaubliche Ausblicke, der starke Kontrast zwischen dem rötlichen Fels und dem immer öfter zu sehenden Terrassenanbau in sattestem Grün ist der Knaller, manchmal erinnert es an chinesische Reisterrassen. Übertroffen wird das Ganze von der hier vorherrschenden karminroten Farbe der Hausfassaden und dem alles überspannenden Azur des Himmels. Farbe in der Natur - wer dafür einen Sinn entwickeln kann und das mögliche Spektrum hier im Antiatlas zum ersten Mal erlebt, wird sich nicht so schnell losreißen können von diesem Anblick. Man kann einen kompletten Film ohne Abzusetzen durchziehen, ohne das Gefühl, alles festgehalten zu haben.

Farben, an denen man sich kaum sattsehen kann ...Dabei stellt man vielleicht fest, dass es gerade diese Kontraste sind, die Marokko so einmalig machen. Auch wenn wir persönlich nur Tunesien zum Vergleich heranziehen können - der Einfluss des Großen Orientalischen Erg lässt die anderen Länder Nordafrikas dagegen monochrom und fahlgelb erscheinen, die Berge, die Ebenen, besonders aber auch die Häuser und Dörfer. In Marokko, das zum Großteil aus Mittel- und Hochgebirgen besteht, ist allein das Licht schon klarer und strahlender und gibt den Farben die Brillanz, an der man sich kaum sattsehen kann. Der Rest des "Kaleidoskops" ist menschengemacht: Die farbigen Trachten, die bunten Türen und Fenster, Blumen und Gewächse, nach dem Waschen ausgebreitete Kleidung auf den Ufersteinen eines Baches - besonders hier im Antiatlas hat man öfter das Gefühl, in eine andere Welt gelangt zu sein.

Tafraoute ist ein quirliges Städtchen. Allerdings auch sehr touristisch, was an der relativen Nähe zu Agadir mit seinen Urlauberhorden liegt, wobei sich die Menschen hier scheinbar einen Teil ihrer Authentizität bewahren konnten. Wir haben nicht den Eindruck, dass sich der Takt der Stadt dem Zeitplan der Busladungen angepasst hat, und das ist auch gut so. Restaurants, Läden, Artisanate, Markt, Handwerker jeder Zunft, Bäckereien - in lockerer Folge ein buntes Angebot, unaufdringlich dargeboten, in manchen Gassen mit flotter Musik unterlegt. Die Menschen hier tragen schon wieder diesen Stolz im Antlitz, der uns scheinbar suggeriert: "He Fremder, sei unser Gast, lass dich im Restaurant verwöhnen, kauf ein paar schöne Andenken, übernachte auf unserem Campingplatz, lass ein bisschen Geld hier, aber fotografier nicht so wild in der Gegend herum und fahr dann auch wieder nach Hause." Das soll nicht abwertend klingen, sondern eine gewisse Kultur und ihr Selbstbewusstsein darlegen.

Kleine Anekdote: Ich gehe zur Boulangerie, krame etwas Französisch hervor und bestelle mit umständlichen Sätzen zwei Baguettes oder Weißbrote. Der dunkle Typ hinter dem Tresen schaut mich ungläubig an und sagt in astreinem Deutsch: "Brot? Na, heut´ nimmer!" Natürlich, ich Idiot, nachmittags gibt es beim Frische-Bäcker kein Brot mehr ...

Tafraoute - Agadir

Wir decken uns mit dem Nötigsten ein, denn unser Zeitplan verheißt uns noch zwei Übernachtungen hier in der Gegend, bevor wir uns wieder auf den Weg nach Norden machen müssen. Und diese Zeit wollen wir in aller Ruhe oberhalb der "Peintures" verbringen, den Felsmalereien eines belgischen Künstlers, die seit den 80ern den Talkessel hinter Aguard Oudad verschönern. Auf dem Weg dorthin kommt man an vielen skurrilen Steinformationen vorbei, die dann auch alle mit einer treffenden Bezeichnung versehen sind: Totenkopf- und Clownsfelsen und Hut des Napoleon ...                  

Felsmalereien verschönern den Talkessel ...

Es führen dann einige Pisten zum Felsental, man muss ausprobieren, welche für das verfügbare Auto machbar sind, und wenn man vorsichtig bis an die Abrisskante fahren kann, kommt der Aha-Effekt: Im Gegenlicht, das das ganze Tal wie eine Bühne in warmes, gelbes Licht taucht, liegt ein blau-violett bemalter Steinhaufen wie eine Handvoll Halbedelsteine mittendrin. Die Dimensionen sind nicht auf Anhieb erkennbar, denn zunächst scheint es alles recht übersichtlich zu sein. 

Vergegenwärtigt man sich aber die Lage auf etwa 1.000 Meter ü. NN mit Bergzügen ringsum bis zu 2.300 Metern, dann werden die Ausmaße klar. Richtig deutlich wird es aber erst, als drei Geländewagen wie Matchboxautos dort unten um die Felsen kreisen: Monumental, einfach gigantisch. Die Stimmung, die über allem liegt, das milde Licht der sinkenden Sonne, die majestätischen Berge, die eine immer rotere Silhouette zaubern - das alles kann man nur andächtig genießen, indem man sich auf einen Felsen hockt, Bierdose (diesmal ungetarnt) und Pistazien dabei, und dem Abend zuschaut. Ich kann nicht immer den Superlativ gebrauchen, deshalb die Empfehlung: Seid ihr mal zufällig in der Gegend, schaut kurz vorbei, es lohnt sich sehr ..!

Graffiti am Kunstwerk ..? Gegen 5:00 Uhr früh erinnert uns die Batterie daran, dass wir immer noch mit diesem maroden Stromspeicher zu kämpfen haben - der Startversuch der Heizung schlägt kläglich fehl. Es gibt nur eine Möglichkeit: Motor an, halbe Stunde laufen lassen, Heizung an und Motor wieder aus. Ruhe. Sämtliche Kojoten des Tales müssen wach geworden sein, man glaubt nicht, wie laut ein kalter Diesel im Leerlauf vor sich hin poltert. Zumindest reicht die Heizung jetzt für ein warmes Frühstück.

Heute, Silvester, wird der Tag vergammelt. Wir machen einen Fußmarsch zu den Steinen, stellen fest, dass es genug Chaoten gibt, die dieses Kunstwerk mit ihren Graffiti verunstalten müssen, freuen uns über 25°C in dieser Bratpfanne und belichten einen Film nach dem anderen; man kann auch gar nicht anders, wenn man einigermaßen ambitioniert die Fotografiererei betreibt. Schöne Motive bieten sich hier an, und man selber wird auch ein wenig zum Künstler dabei.

Eine gemischte Schaf- und Ziegenherde zieht glöckchenbimmelnderweise vorbei, und eine etwas zerlumpte Frau mit Baby auf dem Rücken läuft auf uns zu und bettelt um irgendwas. Uns fällt nichts besseres ein als ihr ein paar Äpfel zu geben, wobei wir uns anschließend fragen, wie sie die dem Baby verfüttern will. Aber da sie flugs wieder weg ist, war es wohl nicht ganz verkehrt. Hartes Leben hier oben ...

Nachmittags kommt die Herde wieder zurück, und diesmal ist es ein Typ, der sich uns nähert. Er scheint um etwas zu trinken zu bitten, und den Wunsch kann man ihm kaum abschlagen. Aber was bleibt übrig, außer dem Bier, dessen Restbestand wir wie den Goldschatz von Fort Knox hüten? Es gibt Rettung in Form einer Flasche isotonischen Getränks, das mit seiner giftblauen Farbe nicht gerade zum Trinken verführt. Das denkt sich auch der Hirte, riecht zweifelnd an der Pulle, schaut uns fragend an, überlegt wohl, ob wir ihn mit dem "Scheibenklar" vergiften wollen und versucht einen Schluck. Seine Miene hellt sich auf, er trinkt die halbe Flasche leer und wir bedeuten ihm, den Rest ruhig mitzunehmen. Bei allem Respekt: aus dem angesabberten Flaschenhals will keiner von uns mehr trinken. Er verschwindet, und wir stellen uns bildlich vor, wie er abends im Kreise der Familie mit der Pulle der King ist.

Unsere Blicke wenden sich besorgt zum Himmel: Schleierwolken ziehen auf, die Sonne wird erstmals seit Tagen milchig und hinten am Horizont wird es finster. Keine guten Anzeichen für eine Sternennacht zum Jahreswechsel! Wir spielen ein - zugegebenermaßen pessimistisches - Szenario durch: Batterie platt und nicht mehr in der Lage, wenigstens eine Nacht die Heizung zu befeuern, und eine Wetterprognose, die durchaus für kräftigen Regen in der Nacht stehen könnte. Das würde bedeuten, dass eine dann verschlammte Piste bis zur Straße nicht mehr passierbar wäre! Kein Allradler, geschweige denn überhaupt ein Fahrzeug in Sicht, und zwei Kinder dabei, die sich nachts bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt schon mal einen "wegholen". Wie haben wir wohl entschieden ..?    

skurrile Steinformationen ... ... auch der Fotograf wird zum Künstler ...

Eine Stunde später schaukeln wir auf der durchlöcherten Piste schweigsam davon und haben das untrügliche Gefühl, zwar richtig entschieden zu haben, aber enttäuscht darüber zu sein, dass der Urlaub jetzt abrupt vorbei ist. Schade, denn die Silvesternacht bei den blauen Steinen hätte ein schöner Abschluss sein können. Ob wir nun zu schwarzmalerisch waren oder nicht - die Antwort sollten wir nie erfahren. Als wir in die Dämmerung fahren, ist es zwar stark bewölkt, aber es regnet nicht.

Es gibt noch einige schöne Ausblicke vor allem von der letzten Passhöhe des Antiatlas, dem Col de Kerdous, hinunter in die Ebene, und die Serpentinen hinab zur weiten Bucht von Agadir ermöglichen ebenfalls ein ständig wechselndes Dauerpanorama, aber so richtige Urlaubslaune will nicht mehr aufkommen. Wir fahren über Tiznit direkt weiter an´s Meer, checken in der Dunkelheit an irgendeinem Camp ein und wollen eigentlich nur noch die Nacht verbringen.

Was wir nicht mit einkalkulieren sind die Dauercamper, die sich auch hier in der südlichen Buchthälfte für Monate eingenistet haben und sich wie zu Hause fühlen: Man kehrt den abgesteckten Platz vorm Auto, hat sich eine diskrete Duschkabine im Freien eingerichtet, die Wäsche flattert im Wind, die Schuhe werden vor Betreten des Mobils peinlichst ausgeklopft, man nickt dem Nachbarn freundlich zu und tauscht Belanglosigkeiten aus, und ich wette, seit einer Woche gibt es kein anderes Thema als wer mit wem zusammen Silvester feiert ...

Wir empfinden das mit unserer üblen Laune als so ätzend, dass wir weder wissen wie das Camp heißt, noch dass es uns großartig interessiert wie teuer die Übernachtung ist noch ob es vielleicht doch einen schönen Stellplatz mit Blick auf´s Meer gibt. Wir parken an einer Mauer, zapfen (Gottseidank) Strom, stopfen uns Fertiggerichte rein, und ab in die Falle; auch solche Downs muss man überstehen. Glücklicherweise hält sich die Knallerei gegen Mitternacht in Grenzen - wir würden es auch nicht aushalten, wie sich die komplette Rentnerschar schwülstig in den Armen läge.

Den Terminus "gegen Mitternacht" wähle ich hier absichtlich, denn - Ignoranz auf breiter Front - der Marokko-Überwinterer gleich welcher Nationalität zündet seinen Knaller selbstverständlich um 24:00 Uhr MEZ. Dass in Marokko, wo man sich immerhin seit Monaten als Gast aufhält, die westeuropäische Zeit gilt, es also erst 23:00 Uhr WEZ ist, das interessiert hier die wenigsten. Da kann man noch von Glück reden, dass wir jetzt nicht auf Hawaii am Strand stehen, da würden sie vermutlich in der prallen Mittagshitze ihren Budenzauber veranstalten und mit ihrem Bengalfeuer die Seenotrettung alarmieren. Darauf ein Prosit Neujahr ..!  


© 2006 Detlef Bauer