Das Grenzdrama
03. Okt: An der lettisch-russischen Grenze geraten wir durch das idiotische Navigationsgerät auf Seitenwege; anstatt die Hauptstraße über Rezekne zu fahren, führt es uns über Schotterwege durch halbverlassene Dörfer. Das erschien dem lettischen Grenzschutz sehr verdächtig, der dort patrouillierte, es folgte die erste Kontrolle, die erste Frage, ob wir schon mal an dieser Stelle waren und natürlich wohin wir fahren ...
An der Grenze Terehova gegen 15 Uhr angekommen, erwarten uns in der Schlange neben vielen LKWs "nur" 15 Autos: Einige mit ukrainischen Kennzeichen, unter anderem auch ein Fahrzeug mit rotem litauischen Nummernschild. Dazu gehörte ein älterer Mann und drei Frauen, mit denen wir ins Gespräch kamen. Er stammte aus dem Donbass, allerdings aus einem Gebiet, das zuletzt von Selenskys Truppe zurückerobert worden war. Er hatte einen ukrainischen Pass und wollte nun nach Krasnodar. Weil er mit seinem alten Auto einen unverschuldeten Unfall hatte, war ihm ein Wagen gestellt worden mit rotem Kennzeichen.
Derweil vergingen zwei Stunden und kein einziges Auto wurde zur Abfertigung durchgelassen. Da es an der Grenze ein Zimmer für 15 Euro zu mieten gab, entschied ich mich als Pessimist es zu nehmen, obwohl Martin meinte, 15 Autos vor uns wären nicht viel, und wahrscheinlich müsste er mich dann am frühen Morgen oder in der Nacht wecken, weil wir doch weiterkommen würden ...
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04. Okt.: Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr war kein einziges Auto weitergekommen: Also gaben wir es auf, uns mit dem Auto durchzuschlagen, da innerhalb von 20 Stunden kein einziges Fahrzeug abgewickelt worden war. Auf Nachfragen erklärten die lettischen Grenzer, es läge an der russischen Seit: Im Durchschnitt kämen pro Tag ca. 5 Fahrzeuge durch und in der neutralen Zone steckten auch noch 9 Fahrzeuge fest ...
Nach längerer Beratung entschieden wir uns, dass
ich mit Janatul zu Fuß über die hiesige Grenze gehen würde, und Martin mit dem
Fahrzeug über Weißrussland die 100 km entfernte nächste Grenze passieren
sollte. Aus Erfahrung wusste er, dass mit dem Fahrzeug die
Grenzüberquerung dort circa 4 Stunden dauern würde. Sicherheitshalber
begleitete er uns noch bis auf die russische Seite.
Das nächste Problem: Offiziell war nur erlaubt, 300 Euro auszuführen aus der EU, aber für Dollars gab es keine Beschränkung bzw. diese konnten bis zu einem Betrag von 10.000 Dollar ausgeführt werden, wie es ein lettisches Gesetz bezüglich der Sanktionen vorschrieb.
Dummerweise
gab ich an, circa 1.000 Euro dabei zu haben, woraufhin ich über das
Gesetz aufgeklärt wurde. So ging ich mit Martin auf die Toilette, gab ihm den
überzähligen Eurobetrag und kehrte zu den Zöllnern zurück: Ich
erklärte, dass ich mich geirrt und doch nicht so viel dabei hätte,
außerdem jemand anderem noch Geld geliehen hätte, der keine Euros dabei hatte. Sie
schauten mich zwar etwas ungläubig an, ließen mich dann aber
weiterziehen. Auf der russischen Seite fragte man mich nur nach
Dollars, aber überhaupt nicht nach Euros ...
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Janatul, die Frau aus Bangladesch, musste circa 4 Stunden warten, bis sie ihr den Pass zurückgaben, bei mir ging das in 15 Minuten. Dafür dauerte die Gepäckuntersuchung bei mir zwei Stunden bis ich überhaupt an die Reihe kam, allerdings folgte dann eine sehr oberflächliche Untersuchung. Danach wurde dann Janatuls Gepäck ausgiebig untersucht, während ich überall herumwanderte. Nach meiner Gepäckkontrolle hätte ich verdächtige Gegenstände sehr einfach aus ihrem Gepäck in meine bereits untersuchte Tasche umpacken können.
Nach zwei Stunden hatte Janatul immer noch nicht den Pass zurück,
ich begann mit den Zöllnern zu diskutieren und ließ den Vorgesetzten
herbeirufen, den ich fragte, ob wir in der völlig
verdreckten und verkommenen Grenzhalle übernachten sollten, wo nichts
funktionierte. Außerdem bräuchten wir auch
noch Wasser und Brot.
Also begleitete mich eine junge Zöllnerin hinter den Schlagbaum, wo ein Auto mit Produkten zum Privatverkauf stand. Der Verkäufer wollte für zwei Fläschchen Wasser und sieben Piroggen 600 Rubel haben (ca. 6 Euro, Stand Nov. 2023). Ich gab ihm 500 Rubel, mehr hatte ich nicht dabei. Nach vier Stunden kamen wir endlich durch: Ein Privattaxi verlangte für die 1,5 km zum nächsten Hotel 500 Rubel, ich gab 250 Rubel ...
Ukrainer reisten in beide Richtungen, manche zurück, manche raus wie eine Gruppe aus Saparoschija. Für beide Richtungen blieb die Grenze geöffnet, aber die Verfahren waren langwierig und umständlich. Warum ließ man Ukrainer aus den neu besetzten Gebieten nach Westeuropa ausreisen, war meine Überlegung: Um die gespaltene Stimmung zwischen Ukrainern aufrecht zu erhalten ..?
Martins Plan
ging auf, er kam nach vier Stunden über die lettisch-weißrussische
Grenze, so dass wir morgens wieder gemeinsam mit dem Auto
aufbrechen konnten. Allerdings war er vom lettischen Grenzschutz
dreimal angehalten und verdächtigt worden, Flüchtlinge entlang der Grenze zu
schmuggeln ...
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Reisen wie vor 100 Jahren, willkürliche Grenzen, ohne System: Wer heutzutage nach Russland reisen möchte, braucht viel Geduld und ein gutes Nervenkostüm ..!
Die lange, langweilige Strecke bis Taganrog
05. Okt.: Der kalte Herbst war da, wir rollten über eine fast leere, aber neue Straße Richtung Moskau. Dann folgten wir rechts entlang der weißrussischen Grenze, um uns anschließend Richtung Süden zu bewegen.
Es ist schon erstaunlich, was Russland in den letzten Jahren in den Straßenbau investiert hat: Nur die einzige Mautstraße, ein kurzes Stück vor Nevel, war in schlechtem Zustand, aber dafür musste man dann ca. zwei Euro bezahlen. Die Tankstellen sind reichlich verfügbar, oft neu gebaut; der Preis für Diesel liegt ca. bei 0,60 Euro, für Benzin etwa bei 0,50 Euro pro Liter.
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Abends kamen wir in Smolensk an: Kurz vor Schluss wechselte ich noch Geld in einer Bank, der Angestellte konnte Deutsch mit mir reden. Ich wollte mit ihm über die Ukraine sprechen, aber er sagte, als Angestellter dürfe er seine eigene Meinung darüber nicht äußern ...
In der Stadt herrschte reger Betrieb, alle Läden waren geöffnet, es gab jegliches Computerzubehör und auch Handyläden. In Smolensk kauften wir uns eine Sim-Karte für bessere Kommunikation, allerdings galt die nur für "Alt-Russland". Skype und WhatsApp funktionierten, Internetseiten ebenfalls weitgehend, auch die Seiten von faz, cnn, aber z.B. nicht die Frankfurter Rundschau oder welt.de.
Wir fuhren weiter bis nach Brjansk, dort machte ich als Fahrer eine Pause in einem Restaurant. In der Nacht fuhr Martin dann weiter, bis wir uns für ein paar Stunden pausierend im Auto hinlegten ...
06. Okt.: Am Morgen nahm ich die Nebenstraßen bis nach Woronesch, selbst die waren relativ gut ausgebaut, so dass ich mit 100 bis 140 km/h voran kam. Nach einer Pause mit Lamm-Schaschlik an einer Raststätte war mein nächstes Etappenziel Taganrog, da ich die anderen Städte schon von einer früheren Fahrt her kannte.
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Wir trafen auf relativ wenig Miliz und nur eine Kontrolle erfolgte vor Smolensk ohne irgendwelche Probleme. Auf der Autobahn nach Rostov sahen wir einige Militärkonvois, wir winkten den Soldaten zu, sie winkten zurück, ein Gruß in den Tod? Ein Wagen war auch mit einer Wagnerflagge hinten behangen - Kinder spielen Krieg ...
Taganrog, Geschichte der zaristischen Depression und Weiterfahrt nach "Neu-Russland"
Vor Rostow am Don ein gewaltiges
Verkehrsaufkommen und Stau in alle Richtungen. Am Freitagabend kamen
wir schließlich in
Taganrog an und übernachteten zwangsläufig in einem edlen Hotel: Es
war ein Problem gewesen, überhaupt ein Hotel zu finden, in dem teuersten für 5.500
Rubel landeten wir schließlich kurz vor 23 Uhr, dazu kamen noch 350 Rubel für das
Frühstück. Zuvor hatten wir bei einem belegten Hotel ein anderes anrufen
lassen, das am Telefon zusagte. Als wir dann mit unseren Pässen ankamen, war
angeblich plötzlich kurz vorher
jemand gekommen und hatte das letzte Zimmer belegt - welch ein
seltsamer Zufall ..!
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Die Stadt Taganrog erwies sich größer als ich gedacht hatte, aber in der Nacht war nicht viel zu sehen, nur ein lauter Militärhubschrauber dröhnte über uns hinweg. In diesem Ort verstarb der Zar Alexander I. im Jahr 1825 in tiefer Depression und überdrüssig seiner Macht und Herrschaft. Bis heute ist es nicht hundertprozentig geklärt, ob er tatsächlich verstarb oder sich inkognito nach Sibirien begab, denn eine spätere Exhumierung des Sargs ergab, dass er leer war. Der Rückzug in seinen kleinen Palast in Taganrog, eine Region am stillen Asowschen Meer, mag seine Depressionen vielleicht noch verstärkt haben ...
07. Okt.: Auch in Taganrog gibt es wie in Odessa eine große Treppe hinunter zum Meer, sehr schön angelegt, aber der Tourismus hielt sich für den heutigen Samstag stark in Grenzen. Im Ort waren viele junge Männer zu sehen, im Gegensatz etwa zur ukrainischen Stadt Ismail. Aber auch in dieser Stadt mit einigen alten Gebäuden das übliche Phänomen: Die historischen Häuser verfallen weitgehend und werden durch neue ersetzt. Wenig Tourismus auch hier, obwohl die Stadt ganz hübsch angelegt ist.
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Eine junge Lehrerin im Museum, das mehr eine Bildergalerie glich, zeigte sich erstaunt über den Besuch von Ausländern und wir kamen kurz ins Gespräch: Was den Krieg betraf, wollte sie Frieden und keinen Sieg, irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sich viele Menschen in der Stadt fast schämten, so isolierte Russen zu sein und sie sich freuten, wenn sich in dieser Zeit noch jemand für russische Kultur und Geschichte interessiert.
Schließlich ging es weiter nach "Neu-Russland", die Stadt Mariupol,
es war ungewiss, ob wir dort überhaupt reinkommen würden mit ausländischen Pässen
und litauischem Kennzeichen. An der alten russisch-ukrainischen
Grenze ein Militär-Kontrollpunkt, sie schauten sich unsere Pässe an
und fragten, was wir wären (Touristen "natürlich"), woher
wir kämen (Lettland,
Taganrog) und wohin wir wollten (Jalta, Krim). Danach konnten wir
weiterfahren.
An der Frontlinie von 2014 sahen wir ein völlig zerstörtes Dorf, Shyrokyne, dort standen an verschiedenen Häusern auch Warnungen vor Minen. Siehe dazu auch mein Video!
Wir nahmen auf dem Weg eine Tramperin mit, die sich als Ukrainerin herausstellte. Ich fragte sie, ob sie sich denn diskriminiert fühlen würde, was sie etwas schüchtern bejahte. Auf meine Frage, ob die Diskriminierung so schlimm sei wie die der Russen in der Ukraine, meinte sie, es wäre vermutlich hier nicht so hart, aber es bestünde dennoch auf beiden Seiten die gleiche Tendenz ...
© 2023 Michael Gallmeister













