Märkte, Heiligtümer und ein Unfall ...

Dass man in einer touristisch noch vollkommen unverdorbenen Region ist, bemerkt man nicht nur am Fehlen der Touristen und an den neugierigen Blicken, sondern auch an dem Umstand, dass wir nie von Kindern um Geld, Süßigkeiten oder ähnliches angebettelt werden. Wir haben den Eindruck, in einer funktionierenden Welt der Clans, Dorfgemeinschaften und Stämme zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass der Zustand noch möglichst lange erhalten bleibt und diese Menschen von der "Hilfe" der sonst in solchen Ländern allgegenwärtigen NGOs verschont bleiben.

Ursprüngliche Region ... ... mit ursprünglichen Bewohnern ...
Funktionierende Dorfgemeinschaften ... ... und keine Scheu vor Besuchern

Spontan überlegen wir uns, die geplante Route zu ändern und anstatt nach Anini ganz im Osten in das Siang Tal Richtung China zu reisen. Allerdings wird unser Antrag von den Behörden abgelehnt. Da wir das Siang Tal also nicht bereisen dürfen, beschließen wir, trotzdem nicht nach Anini zu fahren und dafür unseren Aufenthalt in Roing etwas zu verlängern, was sich im Nachhinein als Vorteil erweist: Erstens beginnen mir meine Bandscheiben ernsthafte Probleme zu machen, zweitens hat es kräftig zu regnen begonnen ...

Große Mengen Wasser ergießen sich über die Landschaft und wir erfahren, dass die Straße nach Anini, die wir ursprünglich nehmen wollten, von einem Erdrutsch verschüttet wurde und zumindest für einige Tage unpassierbar ist. Nichts Außergewöhnliches in der Region, das letzte Mal hat das Freimachen der Straße allerdings neun Monate gedauert! Roing selbst erreichen wir, indem wir mehrmals im weitverzweigten Flussbett des Brahmaputra furten und teilweise temporäre Fähren nutzen müssen, auf denen gerade ein bis zwei Fahrzeuge Platz finden. Je nach Wasserstand ändern sich auch die Fährstationen oder die Fähren werden kurzfristig ganz eingestellt.

Gewöhnungsbedürftige Brücken ... ... und gewöhnungsbedürftige Fähren ...
Gruß vom europäischen Osterfest ... ... für amüsierte Tour-Begleiter ...

Wir sitzen nun also in Roing in unserer Bambushütte, planen die nächsten Tage und besichtigen die lokalen Märkte und Dörfer. In Europa wird jetzt Ostern gefeiert, Brigitta bastelt spontan ein paar improvisierte Ostereier und verteilt sie an Michi und Bormen, was diese höchst amüsiert.

Vielleicht noch ein paar Worte zu den Märkten: Gegessen wird hier grundsätzlich alles, von Maden, Wanzen und Heuschrecken über Würmer und Schlangen bis zu Ratten, Eichhörnchen und Hunden. Die meisten dieser Dinge finden sich auch auf den Märkten, obwohl es teilweise schon Abstriche gibt. Nach dem kritischen Artikel einer Zeitung in Dheli werden Ratten nur mehr selten offen angeboten.

Auf unserem Weg weiter Richtung Südosten kommen wir nahe Tezu an Brahmakund oder auch Parasuramkund vorbei, einem bedeutenden Hindu Heiligtum. Der Legende nach soll der Heilige und Weise Parasuram seine Mutter mit einer Axt erschlagen haben, wonach diese Axt in seiner Hand stecken blieb. Parasuram reiste anschließend um die ganze Welt, erst am Lohit Fluss fiel die Axt aus seiner Hand und schlug ein Stück vom Berg ab, das im Lohit Fluss liegen blieb - dem jetztigen heiligen Ort. Gläubige Hindus kommen hierher zum Bad in den kalten Fluten ...

Marktdelikatessen (1) ... Marktdelikatessen (2) ...

Gläubiger Hindu beim Bad ...

Langsam wendet sich unsere Route wieder Richtung Westen und wir finden uns in der Ebene von Assam mit den Teeplantagen wieder. In Grenznähe zu Assam döse ich gerade im Fond unseres Autos - die Nächte verbringe ich infolge meiner mittlerweile fast unerträglichen Bandscheibenprobleme meistens wach - und werde durch plötzliches Bremsen und einen leichten Aufprall abrupt geweckt. Ich sehe aus den Augenwinkeln eine Bewegung vor unserem Auto - Unfall mein erster Gedanke. Sekunden später sind wir mitten in der Hölle: Dutzende aufgebrachte Männer umzingeln unser Fahrzeug, an Weiterkommen ist gar nicht zu denken, eine Wasserflasche trifft mit einem lauten Knall unsere Windschutzscheibe, die zwar stark beschädigt ist, aber standhält.

Michi erklärt uns kurz, dass wir offensichtlich ein kleines Mädchen überfahren haben. Wenig später wird trotz heftiger Gegenwehr unser Fahrer Bormen aus dem Auto gezerrt. Tritte und Faustschläge gegen das Auto und die Scheiben, Zerren an den Türen, die wir von innen mit den Händen zuhalten, von außen dunkle, finster blickende Gesichter, die uns mit Fäusten drohen und versuchen ins Innere des Fahrzeugs zu sehen. Um die Situation zu beruhigen versucht Michi mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und macht den Fehler, die Türe nur einen Spalt zu öffnen: Er verschwindet prompt auch in der Masse der Menschen. Wir sehen ihn noch am Boden liegend, wie er gerade ein paar Tritte einstecken muss, dann verschwindet auch er in der Menge, das war´s dann.

Meine Frau und ich sind alleine im Auto, draußen die wild gewordene Menge, außer Rand und Band. Das Auto wird geschaukelt, mit Tritten und Fausthieben attackiert. Noch gelingt es uns, die Türen zuzuhalten - fünf Türen mit vier Händen! Der Umstand, dass wir augenscheinlich keine Inder sind und in einem Auto unterwegs sind, in dem üblicherweise auch Diplomaten und Regierungsmitglieder anzutreffen sind, verhilft uns zu etwas Abstand. Immer wieder wird eine der Türen aufgerissen, ich ziehe von innen dagegen und rufe laut nach der Polizei, was die Meute etwas abhält.

Bis wieder einmal die Türe offen ist und ich auf meinen Ruf nach Polizei die Antwort erhalte: "I am the police". Vor unserem Wagen steht ein schmächtiges Bürschchen in Zivil, das aber offensichtlich doch gewissen Respekt bei der Bevölkerung genießt. Dann geht es für uns relativ rasch: Ein ziviler Polizeibeamter und ein uniformierter Polizist mit Kalaschnikow fahren uns mit unserem Auto zur nächsten Polizeistation, das Fahrzeug wird von der Polizei konfisziert - von Michi und Bormen keine Spur.

Einige Zeit später taucht Michi etwas zerzaust wieder auf und wir erfahren, dass sich Bormen in einem Haus verschanzt hat. Vier mit Maschinenpistolen und Kalaschnikows schwer bewaffnete Polizisten holen ihn dort ab, wir haben keine Gelegenheit, ihn zu sprechen. Gott sei Dank stellt uns gegen Abend einer der Dorfbewohner sein Fahrzeug zur Verfügung und so kommen wir noch am selben Tag in unser nächstes Quartier. Michi organisiert uns für die nächsten Tage ein Ersatzfahrzeug mit einem neuen Fahrer.

Nachdem sich herausstellt, dass das Mädchen kaum verletzt wurde, der Vater selbst bestätigt, dass der Unfall nicht zu verhindern war und eine technische Kommission den einwandfreien technischen Zustand des Fahrzeugs festgestellt hat, wird auch Bormen schließlich wieder freigelassen. Nach einigen Tagen freuen wir uns, dass wir wieder im ursprünglichen Team mit unserem bisherigen Auto unterwegs sein können, auch wenn das etwas verbeult ist und eine neue Scheibe hat. Es geht weiter Richtung Nagaland ...


© 2014 Reinhard Temmel