Nach einer kalten Nacht erwacht in den Pyrenäen der Tag: Der Morgentau hat sich als Raureif auf den Zelten niedergelegt. Und als die Ersten von uns aus ihren Schlafsäcken klettern, werden sofort die Kocher angeheizt. Schon bald duftet es auf 1.800 Metern nach frischem Kaffee. Während die klammen Finger an den heißen Bechern langsam aufwärmen, steigen die ersten Sonnenstrahlen hoch über die Berge und durchfluten das unter uns gelegene Tal. Ein Naturschauspiel, welches für jeden Minus-Grad entschädigt.

Mit einer kleinen Gruppe von Geländewagenfahrern sind wir aufgebrochen, um in einer Woche über die Längsachse der Zentral-Pyrenäen zu reisen. Uns wird ein Gebirge erwarten, das so viele Kontraste zeigt, wie kein anderes: schroffe Felsen, vereiste Gipfelgletscher, wilde Schluchten, glasklare Bergseen, Höhlen, seltene Tiere und abgeschiedene Täler, in denen uralte Bräuche noch heute fortleben ...

Als nun endgültig der Tag über unserem knapp unterhalb der Baumgrenze gelegen Lagerplatz angebrochen ist, werden Zelte und Ausrüstung wieder verstaut, die Motoren gestartet und schnell formiert sich unser kleiner Konvoi zur Weiterfahrt durch die Berge.

Über einen alten Schmugglerpfad führt die schmale Piste mit gigantischen Felsüberhängen immer weiter bergan, bis über die Baumgrenze empor. Durch bizarre Felsformationen schlängelt sich die Spur. Tief ausgewaschenes Gestein zwingt immer wieder zu langsamer Fahrt in der Getriebeuntersetzung.

Wir durchsteuern die Täler östlich von Andorra. Unser heutiges Ziel ist ein berüchtigtes Seitental vom Pic Monturull. Unmittelbar im Grenzgebiet zu Andorra gelegen, wurde das unbewohnte Hochtal von Schmugglern auf seinen versteckten Schleichwegen immer wieder durchstreift. Seine atemberaubenden Naturschönheiten mit tosenden Gebirgsbächen und seine fahrtechnisch attraktiven Offroad-Pisten machen es heute für uns interessant.

Jedoch als wir den Einstieg in das Seitental finden, erschaudern wir. Im Steilhang unterhalb der Piste liegt ein abgestürzter Geländewagen. Der vollkommen zerstörte und längst verlassene Lada Niva ist nur noch an Fragmenten als solcher zu erkennen. Warum mag er abgestürzt sein? Die Piste ist rau  und zerworfen, aber abstürzen braucht hier eigentlich niemand?

Als wir weiterfahren und noch über die Ursache rätseln, taucht schon das nächste Wrack vor uns auf. Diesmal ist es ein Toyota LandCruiser! Ebenfalls heftig zugerichtet. Alles was noch irgendwie zu verwerten war, wurde bereits ausgeschlachtet. So fehlt der komplette Antriebsstrang mit Getrieben und Achsen und alle Nebenaggregate des Motors wurden entnommen. Lediglich der Motorblock selbst befindet sich noch im Motorraum. Offenbar konnte das schwere Diesel-Aggregat nicht herausgehoben werden. Derjenige, der es versucht hat, will aber wohl wiederkommen, denn er hat die Maschine sorgfältig mittels einer Plane abgedeckt.

Für die Missgeschicke der beiden Unglückspiloten gibt es eigentlich nur eine Erklärung: Offenbar haben sie versucht, den schmalen Bergpfad im vergangenen Winter bei Schnee zu bewältigen. Die Piste hat hier zwar nur eine leichte Neigung. Aber wenn man auf vereistem Schnee erst mal ins Rutschen gekommen ist, dann rutscht man solange talwärts, bis der Wagen anfängt sich zu überschlagen ...

Auch wenn die Pisten nun Ende Mai 2001 vollkommen gefahrlos genommen werden können, fahren wir doch viel, viel aufmerksamer weiter als zuvor.

Bald schon zieht aber wieder die Dämmerung auf. Wir beschließen, bei einer verlassenen Berghütte unser Lager einzurichten. Von den Dachgepäckträgern wird das während des Tages gesammelte Feuerholz entladen und noch bevor es richtig dunkel wird, knistert das Lagerfeuer. Bis tief in die Nacht sitzen wir zusammen, fasziniert vom grandiosen Firmament - kein Hotel hat mehr Sterne als der Himmel über unseren Zelten!

Am nächsten Tag überschreiten wir den Gebirgskamm nach Andorra. Über endlose Serpentinen schrauben wir uns hinunter in die einstigen Schmugglerdörfer. Die Treibstofftanks werden mit zollfreiem Sprit bis auf den letzten Tropfen gefüllt, und einer der Teilnehmer lässt sich einen beschädigten Reifen austauschen. Als für den nagelneuen 235/85er Qualitäts-MT nur umgerechnet 180,- DM inklusive Montage fällig werden, fackelt ein anderer Geländewagenfahrer aus unserer Gruppe nicht lange und lässt sich seine bereits recht abgefahrenen Pneus rundum erneuern. Aber dann geht es endlich wieder hinauf in die Berge.

Vorbei an den würzig duftenden Bergwiesen des Aigües-Tortes-Nationalparks erreichen wir bei Alós de Isil die Schlucht des Rio Noguera und folgen diesem bis ins Vall d´Aran. Das sagenumwobene Vall d´Aran ist das einzige Hochtal der Pyrenäen, das in Ost-West-Richtung verläuft. Aufgrund seiner klimatischen Lage bietet es überwältigende Naturschönheiten: kristallklare Quell-Bäche und rauschende Wasserfälle laufen in der Talsohle zu einem Gebirgsfluss mit zahlreichen Furt-Stellen zusammen. Die Uferwiesen sind überstreut von Almblumen, während sich an die steilen Felswände uralter Baumbestand schmiegt. Oberhalb der Baumgrenze wird er von bizarren Felsformationen abgelöst, welche von den weißen Gipfeln des gletscherbedeckten Maladeta-Massivs überragt werden. Natur-Abenteuer pur!

Am nächsten Morgen steuern wir auf alten Gebirgspfaden weiter Richtung Westen. Wir kommen in die Hochtäler des Aragón. Auf unserem Weg dorthin liegen immer wieder die verlassenen Bergdörfer der Katalanen. Die Abgelegenheit der Gegend zwang sie zur Aufgabe ihrer Siedlungen. Eines der Geisterdörfer durchstreifen wir. Wie ein Adlerhorst liegt es hoch auf einem Felsen-Sporn. Absolute Stille herrscht in den schmalen, verwinkelten Gassen. Nur die fernen Schreie eines Steinadlers sind hoch über uns zu hören.

Durch das Benasque-Tal fahren wir weiter über den Collado de Sahún. Immer mächtiger werden die gigantischen Felsgebilde der Pyrenäen. Weit oberhalb der Baumgrenze macht sich inzwischen bei einigen Fahrzeugen der langsam dünner werdende Sauerstoffanteil in der Luft bemerkbar: Sobald die Fahrzeuge schneller bewegt werden, beginnen sie große Abgasfahnen hinter sich herzuziehen und die Turbolader pfeifen wie beim River-Kwai-Marsch.

Nachdem wir einen tosenden Wasserfall in unmittelbarer Nähe der Passhöhe besichtigt haben, erreichen wir ein traumhaft gelegenes Refugio. Überall in den Pyrenäen findet man diese einsamen Berghütten, die dem Reisenden Zuflucht gewähren. Das Refugio kurz hinter dem Scheitelpunkt des Sahún-Passes ist besonders schön. In den steinernen Mauern stoßen wir auf ein rustikales Ambiente mit offenem Kamin, kleinen Sprossenfenstern, knarrendem Holzfußboden und mächtigen Deckenbalken. Unweit der Berghütte plätschert eine glasklare Quelle aus dem Felsen und die Aussicht auf die umliegenden, schneebedeckten Berge ist atemberaubend. Obwohl es erst kurz nach Mittag ist, beschließen wir einstimmig, hier unser nächstes Lager aufzuschlagen.

So gut wie in dieser Nacht werden wir in der nächsten nicht schlafen. Denn in der Abend-Dämmerung des nächsten Tages machen wir unweit unseres Camps ein sehr großes, zotteliges Tier aus, welches sich durch den lichten Tannenwald trollt. Wir holen sofort die Ferngläser aus den Fahrzeugen, aber da ist es schon verschwunden ...

Nun muss man wissen, dass es in den Pyrenäen noch Bären gibt. Der europäische Braunbär ist auch heute noch in einigen Tälern der Zentral-Pyrenäen zuhause. Wir sind zwar von den Stamm-Tälern der Bären recht weit entfernt, aber so ein Braunbär kann ja auch auf Wanderschaft gehen. So brennt in dieser Nacht unser Lagerfeuer besonders lange.

Sechs Tage Fahrt über die rauen Hochgebirgspisten der Pyrenäen haben inzwischen deutliche Spuren bei uns hinterlassen. Die Fahrzeuge sind vom Staub der sonnenausgesetzten Hochpisten verkrustet, so manches Ausrüstungsstück, das vor der Reise noch schnell beschafft wurde, hat inzwischen seine Funktion aufgegeben und der sechstägige Komfortverzicht lässt in den hochgebirgsgebräunten, bartstoppeligen Gesichtern  der Teilnehmer unser Vagabundendasein erkennen.

Aber den Großteil der Zentral-Pyrenäen haben wir nun auch bewältigt. Auf unserer letzten Etappe erreichen  wir die Wälder am Irati-Fluß, das Ziel unserer Trans-Pyrenäen-Tour ...


© 2002 Text Sven Tegen, Fotos: Sven Tegen und Thomas Heyne