Richtung Heimat - Langsam ...

Während der nächsten Tage, als sich die beiden Schiffe auf ihrem Weg Richtung Süden vorankämpften, erstellte das technische Team einen umfassenden Bericht zu seinen Erfahrungen, Feststellungen und Schlussfolgerungen. Bis zum 22. Mai war ein Berichtsentwurf fertiggestellt, abgesehen von einem Abschnitt, der sich mit der Analyse von Dicke und Zusammensetzung der während der Reise vorgefundenen verschiedenen Arten von Eis befasste. Nach Fertigstellung auch dieses Abschnitts wurde der gesamte Bericht nochmals geprüft und schließlich aufbereitet.

Parallel dazu hatte die Schiffsbesatzung eine hölzerne Abdämmung in den beschädigten Tankhohlraum eingebaut und mit Beton gefüllt. Diese Maßnahme verhinderte weitere Wassereinbrüche für die Dauer der Heimreise. Dennoch war der Schiffsführer äußerst vorsichtig, wenn es wieder hieß zurückzusetzen und bemühte sich, das Heck des Schiffs dabei nicht weiter zu beschädigen.

Weitere Probleme traten am Nachmittag des 26. Mai auf: Der kanadische Eisbrecher hatte den größten Teil des Morgens damit verbracht, die MANHATTAN zu umkreisen und dabei das Eis aufzubrechen, das ihr immer wieder den Weg versperrte. Als der Eisbrecher etwa 10 Meter neben dem Tanker auf der windzugewandten Seite angehalten wurde, begannen plötzlich aufkommende starke Böen die beiden Schiffe aufeinander zuzutreiben.

Obwohl die Besatzung des Eisbrechers noch versuchte, eine Seitwärtsbewegung ihres Schiffes zu verhindern, schob der nicht nachlassende Wind die beiden Schiffe schließlich aufeinander. Schnell wurde auf der Backbordseite des Eisbrechers vom Wind noch Treibeis herangeschoben, so dass beide Schiffe zuletzt aneinander liegend eingeschlossen und gefangen waren ...

In der Eisfalle: Eisbrecher seit an seit ... Rettung mit Bohrlöchern?

Aufgrund starker anhaltender Winde erfolgten mehrere Tage lang keine Versuche, die beiden Schiffe voneinander zu lösen. Am Morgen des 30. Mai, als der Wind endlich abgeflaut war, versuchten beide Schiffe, sich mit voller Kraft voneinander zu befreien - vergeblich.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, stieg eine ganze Menge von Besatzungsmitgliedern beider Schiff auf das Eis und begann damit, mühsam eine Reihe von Löchern parallel zur windzugewandten Seite des Eisbrechers zu bohren, in der Hoffnung, das mehr als eineinhalb Meter dicke Eis zu perforieren, das sich mittlerweile dort aufgetürmt hatte. Dave, der sich an dieser Aktion beteiligte, notierte später in seinem Logbuch, dass das Ganze eine gigantische Aufgabe war, wenn man die Anzahl der erforderlichen Löcher berücksichtigte und den Aufwand, den man dabei zum Bohren jedes einzelnen brauchte. Knapp fügte er auch hinzu, dass der Versuch erfolglos war ...

Technisches Provisorium ...

Der Chefingenieur der MANHATTAN kam schließlich auf eine innovative Lösung: Er schlug vor, ein Stahlrohr parallel zum Rumpf des Eisbrechers auf das Eis zu legen und durch dieses mit Hochdruck heißen Dampf zu leiten. Und dieses Konzept funktionierte wunderbar: Mit gut 5 bar Dampfdruck aus der Maschinenanlage des Tankers hatte das Rohr innerhalb einer Stunde einen fast 3 Meter tiefen Graben in das Eis geschmolzen.

Volle Kraft voraus!

Die weitere Anwendung dieses Verfahrens führte letztlich zu großen angeschmolzenen Eisbrocken, woraufhin sich der kanadische Eisbrecher zunächst selbst befreien konnte und danach auch die MANHATTAN. Beide Crews verzeichneten damit für sich: Eine weitere "Arktislektion" gelernt!

Bis zum 9. Juni bewegten sich die Schiffe leichter in immer offenerem Wasser und machten ihren Weg nach Süden entlang der Westküste von Grönland. Zwei Tage später, nachdem der kanadische Eisbrecher sie verlassen hatte, dampfte die MAHATTAN mit voller Kraft um die Spitze von
Neufundland.

Zweite Reise: Der Kurs der MANHATTAN ...Der umfangreiche Bericht, der bereits seit mehr als zwei Wochen in Arbeit war, wurde im Wesentlichen bis Ende der ersten Juniwoche abgeschlossen. Nach seiner Rückkehr zu Newport News bereitete auch Dave seinen eigenen Bericht über die Reise für die Werftverwaltung vor, in dem er die Karte rechts einfügte, um das Vorankommen zwischen dem 3. April und dem 4. Juni zu zeigen. Diese Karte zeigt allgemein den Kurs, den die MANHATTAN im Jahr 1970 von Newport aus nahm bis zum Punkt weit im Norden, wo die Entscheidung fiel, nicht weiter nach Westen, sondern stattdessen nach Pond Inlet und wieder zurück in die Vereinigten Staaten zu fahren.

Ein Teil der Rückreise aus dem Gebiet nahe der Nordwestküste Grönlands ist nicht dargestellt, da er dem äußeren Teil der Reise im offenen Wasser ähnelt. Jeder markierte Punkt der Reise bezeichnet die Position des Schiffes an einem bestimmten Tag. Die weit auseinander liegenden Markierungen zeigen das ausgezeichnete Vorankommen des Tankers in offenem Wasser. Die enger zusammenliegenden Markierungen verdeutlichen, wie das Vorankommen im Packeis verlangsamt oder sogar gestoppt wurde. Einige der Markierungen stellen die Zeiten dar, zu denen das Schiff wie beschrieben im Packeis festsaß. Eine davon markiert die fünf Tage, an denen die MANHATTAN und der kanadische Eisbrecher während der beginnenden Rückreise Seite an Seite im Eis gefangen waren.

Mutter Natur´s letztes Hindernis ...

Am 10. Juni geriet das Schiff in eine so dichte Nebelbank, dass die Sichtweite nur noch eine einzige Schiffslänge betrug. Da die MANHATTAN gezwungen war, die Geschwindigkeit drastisch zu reduzieren, betätigte man wiederholt die Dampfsirene zur Warnung kleiner Fischereifahrzeuge
in der Gegend, die sie möglicherweise erst sahen, wenn es zu spät war.

Am nächsten Tag, als sie immer noch wegen Nebel langsamer fahren mussten, entdeckte man nachträglich einen Riss im Schiffsrumpf. Er befand sich ziemlich weit vorn knapp unter der Eisverstärkung und erstreckte sich sowohl horizontal als auch vertikal über eine Gesamtlänge von rund drei Metern in Richtung eines der vorderen Seitentanks.

Die Beschädigung verlief durch zwei längslaufende Verstärkungselemente und befand sich unmittelbar unterhalb des Bereichs, wo die Eisverstärkung angebracht war. Wie Dave anmerkte, war es unmöglich festzustellen, seit wann dieser Schaden bereits bestand und was genau das Problem verursacht hatte. Die am meisten akzeptierte These war, dass der Schaden durch Eis verursacht worden war, als das Schiff zurücksetzen musste.

Der Seemann wieder zu Haus ...

Die MANHATTAN legte am 13. Juni 1970 in Philadelphia an. Nach der Reparatur nahm sie ihren ursprünglich geplanten konventionellen Öltransport auf der ganzen Welt wieder auf. Ihr verstärkter Bug blieb erhalten, wurde aber nicht wieder benötigt. Im Jahr 1987 lief sie in Asien auf Grund. Obwohl sie wieder erfolgreich flott gemacht werden konnte, wurde sie außer Dienst gestellt und kurz darauf verschrottet.

Dave Lester: Jahrzehnte später ...Die Ölfirmen, die ihre beiden Reisen ans Ende der Welt finanziert hatten, trafen die Entscheidung, dass es nicht machbar sei, ganzjährig Öl von der Prudhoe Bay über die Nordwestpassage an die Ostküste Amerikas zu transportieren. Dieses Konzept wurde verworfen und stattdessen die Trans-Alaska Ölpipeline gebaut. Daves Schiffskameraden verstreuten sich wieder am Ende ihrer gemeinsamen Reise. Er selbst kehrte nach Virginia zurück und befasste sich weiter mit technischen Fragen und Ausrüstungsgrundlagen des ersten Flugzeugträgers der NIMITZ-Klasse.

Jahre später kamen ihm seine praktischen Erfahrungen auf See bei verschiedenen Anlässen zugute, als er im Rahmen der Konstruktion von Tankern bei NNS eingesetzt wurde. Nach einer langen und erfolgreichen Karriere bei NNS ging Dave Lester 2011 in den Ruhestand.

Bei der Abschiedsfeier, die für vierundvierzig Dienstjahre bei der Werft gefeiert wurde, erfolgte eine biografische audiovisuelle Präsentation durch seinen älteren Bruder Jerry Lester. Dave freute sich, dass darin zahlreiche Fotos von seiner "All Inclusive" Kreuzfahrt ans Ende der Welt vor über 40 Jahren enthalten waren. Dave war seit 1970 nicht mehr nördlich des Polarkreises und hat auch keine Pläne, noch einmal dorthin zu fahren.

Aber, falls er gefragt wird, wer weiß ...

Nachwort

Bei dieser Geschichte handelt es sich um die sprichwörtliche "Spitze des Eisbergs": Um die Erfahrungen von Dave Lester auf See aus dem Jahr 1970 voll zu würdigen, muss man seine täglichen detailreichen Aufzeichnungen mehr studieren als nur lesen. Sie sind schon für sich genommen ein technischer Schatz. Seine in den 1970er Jahre erstellten Skizzen, Analysen und Schlussfolgerungen stehen für Wissen und eine Weitsicht, wie man sie nur selten bei einem jungen Ingenieur findet.

Als Dave kürzlich gefragt wurde, welchen beruflichen Nutzen er aus seinem arktischen Abenteuer gezogen hat, antwortete er wie folgt:

"Die Fahrt mit der MANHATTAN vermittelte mir ein Gefühl vom Leben an Bord eines Schiffes, über den Betrieb von Dampfmaschinen und die Handhabung eines Tankers auf See. Ich habe auch viel über Festigkeitsaspekte und Längsbiegung bei Schiffskonstruktionen gelernt (z.B. Rumpfbiegemomente und Spannungen in einem Schiff).

GedenkplaketteMitte der 1980er Jahre arbeitete ich an der Konstruktion der bei NNS gebauten ULCC´s (Anm. der Red.: Ultra Large Crude Carrier, Tanker) wie auch bei Umbauarbeiten an mehreren Tankern. Ich denke, die MANHATTAN-Reise hatte viel mit meiner Abstellung für diese Aufgaben zu tun und auch damit, dass ich gebeten wurde, später am "Double Eagle"-Tanker-Programm von NNS (Anm. der Red.: Doppelhüllenschiff) mitzuarbeiten.

Ich hatte Freude an kommerziellen Schiffskonstruktionen, die für mich eine willkommene Abwechslung waren im Vergleich zur Konstruktion von Flugzeugträgern, mit der ich mich die meiste Zeit meines Berufslebens befasste."

Es kostete mich einige Überzeugungsarbeit, Dave dazu zu bringen, etwas zu erzählen, was er selbst für eine Geschichte von geringem Interesse oder Resultaten hielt. Dave, du hast dich wenigstens in dieser Sache einmal geirrt ...

Gedenkplakette zum Gedenken an die zweite Reise -
unterzeichnet vom Kapitän der MANHATTAN  (Bild rechts).


© 2012-2018 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin