9. Tag

Die Sonne kitzelt uns erst spät wach, und als ich den ersten Schritt vor die Schiebetür mache, ist es plötzlich Sommer geworden: Warm und windstill ist es auf dem Hügel, wo die Camperfläche des FBJ markiert ist - eigentlich nur ein planiertes Terrain, das mit weißgekälkten Steinen begrenzt ist. Vorn am Eingang beherbergen die roten Gebäude das Restaurant und die Rezeption, Appartements und Klohäuschen, und komplettiert wird das ganze Ensemble mit einem kleinen, gut gewässerten Palmenhain zwischen geschotterten Wegen, einem Pool und Berberzelten zum Mieten.

Relaxter Eindruck ...Außerhalb der Anlage erkennt man etwas abseits gelegen das Hotel und die Naturpiste von gestern Nacht, die am Fort vorbei Richtung Meer führt. Alles macht einen relaxten, netten Eindruck, einer schraubt an seiner Enduro, ein anderer pumpt quietschend die Reifen auf und der nächste hat sein komplettes Gepäck im Dreck ausgebreitet und sortiert alles neu. Pianissimo wohin man blickt, und wer hier mit Puls über 100 herumrennt, hat sie nicht mehr alle ...

Aber der Hammer ist der Pool: Leicht erhöht in einer Ecke des Forts bildet das etwa 5x10 Meter große Becken den totalen Kontrast zur umgebenden Landschaft: alles rotbraun und staubig, und mittendrin ein blaues, plätscherndes Rechteck. Wenn man wassertriefend am Rand steht und über die Bambuspalisade ringsum in die Hügel späht, denkt man unwillkürlich: Da müssen doch jetzt jeden Moment ein paar halbverdurstete, seit Tagen herumirrende Menschen herangestolpert kommen, und sich beim Anblick des Pools mit letztem Aufbäumen mitsamt ihrer abgerissenen Kleidung ins Wasser stürzen. Es gibt wirklich schöne Klischees, und ich halte auch intensiv Ausschau, aber nichts passiert. Schade ...

Mittags fahren wir dann wieder, und im Nachhinein war das vielleicht unsere einzige Fehlentscheidung der Reise. Das FBJ ist wirklich ein traumhafte Oase, und wir hätten diese Ruhe über den Hügeln ausgiebigst genießen sollen. Einfach mal abhängen, eine kleine Wanderung, abends den Grill anschmeißen - einen Tag vergammeln halt. Aber das Fort ist ja nicht aus der Welt, und beim nächsten Mal wird alles nachgeholt.

Wir machen dann noch diverse Fotopausen, beim schön bemalten Betonbogen zum Beispiel, wo man auf arabisch vom Plage Blanche begrüßt wird, und auch bei der Furt des Oued Assaka, an der per Pegelstange die Wattiefe angezeigt wird. Jetzt tröpfelt der Assaka aber nur, und ziemlich brackiges Wasser sammelt sich unterhalb zwischen den Felsplatten ...

Zum Plage Blanche ...

Fotopause beim schön bemalten Betonbogen ...

Per Pegelstange wird die Wattiefe angezeigt ...

Unsere Richtung ändert sich jetzt auf Ost, wir wollen abends in Tata am Djebel Bani sein. Es ist ein ganz schönes Stück zu fahren, aber auch hier steht das Erleben der Landschaft aus dem fahrenden Auto heraus im Vordergrund, es gibt keine speziellen Höhepunkte auf der Etappe, wo man dringend aussteigen müsste. Ich meine das natürlich mit Rücksicht auf unsere Reiseplanung, mit mehr verfügbarer Zeit gibt es Hunderte von schönen Stellen, an denen es sich lohnen würde, etwas zu verweilen.

Das erste Mal auf unserer Route verlassen wir großräumig die Küstenlinie, und das merkt man sofort an den Temperaturen: Mit heißen Köpfen werden wir hinter den Scheiben gebraten, wir checken den Temperaturanstieg erst überhaupt nicht, bis wir dann bei einer Pinkelpause erstaunt feststellen, welch warmer Wind uns von hinten anbläst; die Messung ergibt 28°C. Ein ganz neues Gefühl macht sich breit - T-Shirt-Wetter -, und das wird langsam auch Zeit nach den durchschnittlichen 20°C bisher ...

Der Grund für den starken Rückwind ist auch sehr deutlich: Alle Bergketten haben sich in West-Ost-Richtung aufgeworfen, allen voran der Antiatlas, an dessen Südflanke wir uns jetzt bewegen. Wie im Windkanal bläst die Luft vom Meer her, erwärmt sich mit jedem Kilometer über Land mehr und beschleunigt sich in den enger werdenden Tälern. Vor Akka hat der Sturm dann eine Kraft erreicht, die den feinen Oberflächensand emporwirbelt und eine riesige Staubwolke entstehen lässt, die wie eine Nebelwand vor uns hertreibt. Die größtenteils schwarze Bevölkerung in den Dörfern kauert in der Hocke im Schutz der Mauern, und die Männer glotzen unaufgeregt bis teilnahmslos hinter uns her (Warum die sich nicht in ihren Häusern verbarrikadieren, bleibt mir ein Rätsel - wahrscheinlich müssen sie dann den Müll runtertragen! ).

Die Straße führt teilweise durch richtig große Palmeraien - die Haratin kleiden sich viel bunter als die Araber -, abseits der meist einspurigen Trasse sieht man ganze Herden von Kamelen ziehen - man fühlt sich hier so ein bisschen nach Schwarzafrika versetzt, und Marokko kommt uns nochmal einen Tick exotischer und fremder vor als bisher schon. Zudem gibt es einen Vorgeschmack darauf, wie es wäre, wenn man mit dem Auto weiter Richtung Süden nach Mauretanien und - ganz abgedreht - in den Senegal führe. Die Idee hat was, und nach der Grenzöffnung Marokko/Mauretanien ist es gar nicht mal so utopisch, vorausgesetzt man hat genügend Zeit ...

Panoramastraße durchs Wüstengebiet ...

Auf der ganzen Strecke zwischen Bou Izakarn und Tata bewegt man sich also spektakulär zwischen Antiatlas und dem algerischen Grenzgebirge entlang, mit fantastischen Aussichten und einer Wüstenlandschaft, wie man sie sich vorstellt. Selbst die Staubwolke mutet wie ein kleiner Sandsturm an, und als wir da durchfahren und sich für zehn Minuten die Sonne verdunkelt, haben wir Wüstenfeeling der Extraklasse. Diese Panoramastraße ist wirklich eine gute Möglichkeit, gefahrlos mit einem normalen Auto ohne jede Geländegängigkeit durch ein riesiges Wüstengebiet zu fahren und eine der Landschaften zu erleben, deretwegen man ja auch nach Nordafrika fährt - Allgäu und Holsteinische Schweiz haben wir zu Hause!

Man sollte sich nur rechtzeitig um den Sprit kümmern, denn die Entfernungen zwischen den Zapfsäulen sind hier doch sehr groß. Normalerweise belustigen mich solche Warnhinweise in übereifrigen Reiseführern eher, denn ich bin bislang immer noch eher durch eigene Schusseligkeit ohne Sprit liegen geblieben, als durch eine fehlende Tanke. Aber hier könnte es knapp werden, zumal auch die Karteninfos immer mit Vorsicht zu genießen sind - die auf meiner Karte verzeichneten Tankstellen in Akka und Tamanart habe ich entweder nicht entdecken können oder aber sie entpuppte sich als recht versifftes Pumpengehäuse hinter einer abgekippten LKW-Ladung Schutt. Keine Ahnung, ob da noch ein Tropfen geflossen wäre oder nicht - das wären dann in diesem ungünstigen Fall grob gerechnet 200 Kilometer ohne Tankmöglichkeit, und da kann man schon mal einen Gedanken an den Füllzustand des Tanks verschwenden ...

Abgespeckte Palette von Wüstenfarben ...

Ein anderes Thema ist hier auf dieser einspurigen Straße das Passieren des Gegenverkehrs. Das heißt im Klartext: In der Mitte der Trasse gibt es ein etwa drei Meter breites Asphaltband, und beiderseits davon ist großzügig geschottert - je nach Alter der Piste mit Schlaglöchern, Auswaschungen oder Wellblech. Man kann es sich nun zum Sport machen, solange auf der Asphaltspur zu verharren, bis der Entgegenkommer die Nerven verliert und in den Schotter ausweicht. Das wird einem als Mutprobe so richtig den Kick geben, aber wenn anschließend der aufgewirbelte Steinhagel entgegenprasselt und die Blechfront demoliert, dann ist Schluss mit lustig, mal ganz abgesehen von dem Ärger, wenn auch noch die Frontscheibe zu Bruch geht.

Da die nächste Carglas-Vertretung weit weg ist, bin ich also dazu übergegangen, beim herannahenden Gegenverkehr schon frühzeitig selber auf den Schotterrand zu fahren. Der Entgegenkommer sieht´s meistens mit Freude, bleibt seinerseits auf dem Asphalt, und wenn er dann den Steinhagel abbekommt, weil ich unvermindert "die Pace halte", sind wir längst weg. Dass diese Vorsichtsmaßnahme aber nur begrenzt wirkt, erkennt man dann nach der ersten Autowäsche wieder zu Hause, wenn man die Zahl der Einschläge im Lack nicht mehr an einer Hand abzählen kann ...

Angekommen ...

Der Camping Municipal in Tata ist leicht zu finden, und er ist gut frequentiert, wie wir feststellen: Alle autoreisenden Nationen Europas haben sich hier eingenistet, und vom Land Rover mit Dachzelt bis zum Niesmann Flair mit Motorradbühne findet man die ganze Palette möglicher Reisefahrzeuge. Der Blick vom Betonplateau hinab ins trockene Oued ist schön, und viele Ecken des Camps sind mit üppig blühenden Sträuchern bepflanzt. Diese knalligen Farben sind richtig Balsam für unsere Augen, die den ganzen Tag lang nur die abgespeckte Palette der Wüstenfarben zu sehen bekamen. Auch wenn man über den Betonboden streiten mag, er hat einen Vorteil: Kein Staub! Denn der warme Wind, immerhin sind abends noch 24°C, bläst in Böen über den Hang und hätte für mächtig Sand zwischen den Zähnen gesorgt.

Im Camp Municipal ...Stimmungsmäßig würden wir uns heute gern irgendwo in der Stadt hinsetzen und bedienen lassen. Lamm-Brochettes mit Pommes, das wär´s. Zu diesem Zweck verlasse ich das Camp zu Fuß und streife im Schnelldurchlauf durch die Gassen, aber selbst rund um den brodelnden Hauptplatz, wo jetzt in der Abendstunde zig Überlandbusse und Taxen be- und entladen werden, kann ich kein lauschiges Plätzchen für uns entdecken - die zwei gesichteten Restaurants machen keinen besonders einladenden Eindruck.

Man ist hier offenbar nicht auf Individualreisende eingestellt, und das ist im Prinzip ja auch nicht schlecht: Man kann hier am Busbahnhof ziemlich authentisches Dorfleben beobachten, mit Geschrei, Gehupe, Abgasgestank und einem Gewimmel von Menschen jedes Alters mit ihrem Gepäck. Nach einer halben Stunde fallen mir bald die Ohren ab, und als dann auch noch der Muezzin von oben herabplärrt, reicht´s mir. Ich sehne mich nach einer Portion Spaghetti vorm Auto.

Es war also ein gelungener Tag, und vor allem die Abwechslung der Landschaft hat uns gut getan: Es war mal so richtig Wüste pur, mit dörflichem Leben am Weg und Palmen ohne Ende. Dazu die immer präsente Bergkulisse des Antiatlas - wir sind beeindruckt!

10. Tag

Heute erleben wir eine Etappe, bei der ich nicht genau weiß, wie ich sie am besten beschreiben soll, damit kein falscher Eindruck beim Leser entsteht: Der eine oder andere, der sich bis hierhin durch die Lektüre gewühlt hat, mag ja mittlerweile den Eindruck gewonnen haben, dass wir tagelang nur auf dem Bock sitzen und die Reise vom Auto aus abarbeiten. Und so ganz verkehrt ist diese Einschätzung nicht, es ist halt eine Tour, die man getrost als "fahrlastig" bezeichnen kann.

Nichtsdestotrotz haben wir uns bemüht, Stopps, Pausen und Besichtigungen immer da einzulegen, wo es sich wirklich lohnt, um quasi das Angenehme mit dem Notwendigen zu verbinden, und dass der Zeitplan straff würde, wussten wir von vornherein. Wie aber erklären, dass wir hier keine Wertungsprüfung der Rallye-Dakar nachstellen, sondern lediglich einen etwas längeren Fahrabschnitt bis auf die Nordseite des Hohen Atlas vor uns haben, der alles bisher dagewesene in puncto "Sattelfestigkeit" in den Schatten stellt ..?

Es ist eben nun einmal so, dass gerade so großartige und weite Landschaften mit ständig neuem Panorama und spektakulären Aussichten in Bewegung erlebt werden wollen - oder auch andersherum gesagt: Sie leben von der Bewegung durch sie hindurch. Dann findet dieser ständige Wechsel von Farbe, Licht und Perspektive statt, der einen so umhauen kann. Das Auge wird zum wichtigsten Sinnesorgan und liefert uns nie gekannte Bilder dieser Ecke unserer Welt, und man möchte die Anblicke originalgetreu per Foto und Film konservieren, so als habe man Angst, sie mit dem Schwenk um die nächste Kurve für immer zu verlieren.

Dabei stellt man fest, dass man die Gewaltigkeit in keiner Weise festhalten kann - noch nicht einmal mit einer analogen 17mm-Optik. Hält man zwecks Foto-Stopp an und erkennt, dass die eben noch dynamisch vorbei gleitende Bergkette zum Stillleben mutiert, welches es einem schwermacht, das ganze adäquat abzulichten, dann ist schnell die Floskel parat: "Ok, ganz nett, weiter geht´s!" Unter Umständen ist man anschließend von seinem geschossenen Fotomaterial enttäuscht, weil es nicht die Realität wiederzugeben vermag, und man erkennt, dass nur die Aneinanderreihung der Superlative das grandiose Gesamtbild ergibt ...

Geometrische Linien ...

Unter diesem Aspekt muss man also unsere Tagesetappe sehen, als einzige Panoramafahrt über zwei Gebirgszüge des marokkanischen Atlas hinweg. Erwartungsfroh gehen wir die etwa 400 km lange Fahrt über Irherm und Taroudannt, über den Tizi-n-Test bis kurz vor Asni an. Tizi-n-Test: Der Name allein klingt schon nach Abenteuer. Es ist vielleicht nicht leicht, meine Euphorie angesichts des Abfahrens einer Straße zu verstehen. Wer nicht empfänglich für den Reiz einer sogenannten Traumstraße ist und für ihr Befahren niemals bereit wäre, Umwege, Zeit und Geld zu investieren, nur des Erlebnisses wegen - der wird weder meine vorausgehenden Gedanken verstehen noch das Beschriebene unbedingt nacherleben wollen. Ich verstehe jeden, der da sagt: "Ob ich nun den Tizi-n-Test oder die Schwarzwald-Höhenstraße gefahren bin, wo ist der grundliegende Unterschied?" Für uns jedenfalls ist die 2100 Meter über NN gelegene Passstraße über den Hohen Atlas die Traumstraße Marokkos, und einer der Höhepunkte der Reise. Aber so weit ist es noch nicht ...

Anti-Atlas ist bestimmt ein berberischer Dialekt und bedeutet soviel wie: "Geometrische Linien im Berg". Das muss so sein, denn kilometerlang begleiten uns diese Texturen am Südhang des Gebirges - mal gezackt, mal gebogen und auch mal gerade. Wie ein Gabelmuster in der Butter machen diese Sediment- und Gesteinsschichten die Verwerfungen der Erdkruste deutlich, und die erstklassig zu befahrene Straße schlängelt sich als Panoramastraße durch die himmelwärts strebenden Schollen hindurch. Unmerklich, aber stetig steigt die Trasse an, mal links, mal rechts im ausgedörrten Flussbett, einzelne Palmengruppen tauchen auf, und ab und zu kann man ein Dorf mehr durch Zufall am Hang erkennen, so camouflage-mäßig passt es sich der Farbe des Atlas an.

Die Straße ist so neu, dass die Kilometersteine noch blanko-weiß in der Höhenluft strahlen, und irgendwo im Niemandsland sind zwei Arbeiter mit Pudelmütze damit beschäftigt, mit Farbeimer und Pinsel die Entfernungen nach Tata beziehungsweise Taroudannt zu "bestimmen". Der Arbeitsplatz der Beiden dürfte für mindestens ein Jahr gesichert sein, wenn da nicht noch ein Gegentrupp unterwegs ist ...

Traumstraße Marokkos ...

Irherm auf der Scheitelhöhe des Anti-Atlas hat ein bisschen was von Bergsteigerlager, und tatsächlich sehen wir einige Besuchergruppen in modisch bunter Outdoorbekleidung, die in dieser relativen Höhenluft extrem grell strahlt. Insgesamt gibt man sich hier oben sportlich recht ambitioniert, was auf uns verständlicherweise eher abschreckende Wirkung hat, und die Händler haben sich mit diesem Wandertourismus bestens arrangiert - auf der Durchgangsstraße dominiert wieder der übliche Touri-Klüngelskram. Wir starten durch, und hinter der nächsten Kuppe hat uns die Bergwelt wieder vereinnahmt. Es geht wieder hinab, und das Soustal präsentiert sich von hier oben als riesige Ebene, die sich im Dunst verliert. Acker- und Anbauflächen belegen jeden Hektar Boden, so als wollte jede gesetzte Zwiebel, jeder gesäte Samen und jede Obstpflanze von der Fruchtbarkeit des Tales profitieren. Leider hat sich die Sonne hinter mächtiger Schleierbewölkung verkrochen, und fast scheint es, als ob alles hier auf den erlösenden Regen wartet, der sich mit den Wolken vielleicht ankündigt.

Und dann kommt unsere Traumstraße: In schrägem Winkel führt eine Abzweigung hinauf in die Berge, zuerst moderat ansteigend und leicht geschwungen, dann aber doch immer kurviger und merklich schmaler. In der Mitte asphaltiert, mit ausgefransten Rändern, ist es eigentlich ein einspuriges Passsträßchen, auf dem man aber den seltenen Gegenverkehr gut passieren kann - trotz fehlender Absicherung am Hang.

Die Aussicht nach hinten wird immer grandioser, und mit zunehmender Höhe stellt sich auch der Flugzeug-Effekt ein: Seitlich sieht man eigentlich keinen Boden mehr, es gibt nur noch den Blick in die Tiefe. Links unten sieht man auf dem Talgrund vereinzelte Hütten und Häuser, und an manchen Kehren haben Fossilienhändler ihre Bretterbuden aufgebaut und hoffen auf Kundschaft ...

Dass hier das knallharte Geschäft mit den Touristen blüht, erkennt man auch an den Kindern, die teilweise in Gruppen von oben herunter kommen und relativ ungeniert um Geld betteln. Manche machen auf Mitleidstour und führen mehrfach die Hand zum Mund, in der Hoffnung, dass der anständige Tourist dieses Ansinnen nicht abschlagen wird und anhält. Was dann am belagerten Autofenster gefordert wird, ist wohl klar: Nur Bares ist Wahres! Und weil man ja weiß, wohin das führt, fahren wir also unvermindert vorbei und ziehen den Kopf in Erwartung eines Steinwurfs von achtern ein.

Das ist jetzt keine böswillige Beschreibung der Not der hier lebenden Menschen, sondern einfach die Schilderung des subjektiven Gefühls beim Passieren dieser "Banden". Es gibt nichts Ätzenderes als so ein Pulk von sich gegenseitig aufwiegelnden Kindern, deren Mimik und Gestik eindeutig Bände spricht: Gejohle, Blechklatschen, Drohgebärden und das provokante Bücken nach einem Stein sind auf solchen Touri-Trampelpfaden gängige Praxis, und der Begriff der Wegelagerei ist in diesem Zusammenhang durchaus zutreffend ...

Bisher hat uns zwar noch kein Stein eine nachhaltige Beule beschert, aber in solchen Momenten überlege ich schon, welche Reaktion im Falle eines Falles die sinnvollste ist, und ob man nun schnell oder langsam vorbeifährt ist ebenfalls nicht so einfach zu beantworten. Mein Gefühl sagt mir: Schnelles Beschleunigen zwingt den "Rudelführer" geradezu, einen Stein hinterher zu feuern, ein Langsamerwerden könnte er als Anhalten deuten und wäre somit eine Gefahr für ihn als potentiellen Werfer. Das alles ist aber reine Spekulation, und da wir es nicht besser wissen, fahren wir also normal und ruhig an ihnen vorbei, winken fröhlich aus dem Fenster, verstehen nur Bahnhof und tun so, als hätten wir es hier mit den liebsten Kindern Marokkos zu tun. Anschließend ist dann Durchatmen angesagt ...

Ständig neues Panorama und spektakuläre Aussichten ...

Eine unangenehme Situation ist es allerdings jedesmal, weil man immer im Zweifel ist, ob man nun richtig oder falsch reagiert, und letztendlich kann man froh sein, dass sich dieses Verhalten nur auf wenige Strecken hauptsächlich im Tages-Ausflugs-Radius um Agadir sowie einige beliebte Touristenstrecken beschränkt. Im Gegensatz zu den 90er-Jahren hat sich im Verhalten der Einheimischen dem Touristen gegenüber aber doch einiges gebessert - die Kampagnen zur Förderung des Tourismus zeigen vor allem in den Städten Wirkung, und nur auf dem Land ist vieles noch wie früher, eben auch die Bettelei.

Oben auf der Passhöhe hat man dann eine unglaubliche Rundum-Sicht auf die Welt, ein Café lädt mit Tischen und Stühlen draußen zum Tee ein, falls das Wetter es zulässt, und eigentlich könnte man hier ganz passabel die Nacht im Camper verbringen; das war so in etwa unser Gedanke heute morgen. Doch das Wetter lässt es nicht zu, es bläst ein saukalter Wind über die letzte Kehre und so etwas wie ein abendsonnendurchflutetes Soustal als Kulisse zum ersten Bierchen des Tages vorm Auto ist wohl sehr unwahrscheinlich. Zudem ist der Platz rund um das Café mit den Campmobilen einer geführten Tour zugepflastert, und drinnen sitzt die ältere Generation, verriegelt und verrammelt, und spielt Canasta. Damit ist die mögliche "Ü/F" auf der Passhöhe endgültig gestorben und wir fahren weiter ...

Auf der Nordseite geht es nur halb so toll weiter - es fehlt hier der eine Steilhang, an dem sich die Straße hinunter hangeln muss. Das ist auch meiner Meinung nach der Grund, warum man die ganze Passstraße eher von Nord nach Süd befahren sollte, wenn man es denn so einrichten kann. Allein die Aussicht von der Passhöhe, die plötzlich und unerwartet den Blick ins Soustal freigibt und der anschließende "freie Fall" durch die Serpentinen nach unten sprechen für diese Version. Schade, dass es unsere Planung anders vorsah!

Blick herab ins Tal ...Jetzt führt die Straße ständig bergab durch ein viel verzweigtes Tal, eine Kurve reiht sich an die nächste, und in Folge unseres Tempos - der Tag nähert sich schon wieder rapide seinem Ende zu - fliegt alles, was im Auto nicht niet- und nagelfest ist, mit Getöse von links nach rechts. Ich ahne, dass die Hälfte der Mannschaft gleich meutert oder zumindest seekrank wird, aber es tut sich bisher kein ansprechendes Plätzchen für eine Übernachtung auf. 

Erst einmal dunkel, ist es fast unmöglich, einen halbwegs sicheren Stellplatz zu finden - die Gefahr, sich des morgens auf einem bewirtschafteten Hof wiederzufinden und vom Bauern zum dreimaligen Teeaufguss plus Palaver verdonnert zu werden, ist immens groß. Solche Gastfreundschaftsattacken würden unser Zeitgefüge erheblich durcheinander wirbeln - so fruchtbar solche "Einkehr" auch sein mag. Also weiter, nächste Kurve.

Es wird jetzt waldiger, und der Einfluss der Atlantikfeuchte wird an der Vegetation spürbar. Richtig dunkelrote Erde umgibt uns, und es ist eine Farbe solcher Intensität, dass sie fast unecht aussieht. Ab und zu lugt die Sonne wieder hervor und lässt den uns permanent begleitenden Fluss tief unten aufblitzen, wir passieren schöne Dörfer längs der Straße, und die Landschaft nimmt jetzt doch ziemlich alpinen Charakter an. Je weiter wir nach Norden vorstoßen, umso mehr fühlt man sich ins Allgäu versetzt - wenn sich da nicht ab und zu ein gebückter Alter mit einem Riesenhaufen Grünzeug auf dem Buckel am Straßenrand abmühte, und damit ziemlich deutlich macht, wo wir uns befinden ...

In Ouirgane soll es laut Reiseführer neben einem Nobelresort auch ein Camp geben, und das ist jetzt unser Ziel, welches sich mit Glück auch noch im Hellen ansteuern lässt. Durchhalteparolen werden ausgegeben, und als wir den recht properen Ort erreichen, werden wir wieder enttäuscht: Die Hotelanlage - ausladende Rezeption, Flaggen, Reitstall, Pool und dicke Autos - strotzt nur so vor lauter Exklusivität, und als wir unser Camp auf steil bergan steigendem Sträßchen erreichen, stehen wir vor geschlossenem Gatter. Null Betrieb hier, kein Schwanz zu sehen, und wie zum Hohn schallt helles Lachen und teure Fröhlichkeit vom unter uns liegenden Resort herauf. Wir machen ziemlich lange Gesichter, und mir wird klar, dass die Geduld meiner Familie bald zu Ende ist. Es muss jetzt schnellstens ein Stellplatz her ...

Während der Weiterfahrt spiele ich in Gedanken die unmöglichsten Szenarien durch: Einfach nach rechts ins Gehölz nahe dem Bachbett ..., zurück zum Resort und um einen Stellplatz am "Katzentisch" betteln ..., oberhalb des Dorfes auf den geschotterten Busparkplatz stellen ..., kackfrech vorm verrammelten Gatter des Camps nächtigen ..., weiterfahren nach Marrakech auf den CP dort ... - aber alles wären nur Notbehelfe, wenn es denn gar nicht mehr geht. Mein Anspruch als Verantwortlicher in Sachen Stellplatzsuche ist immer, eine Übernachtung mit "Stil" zu ermöglichen, egal ob auf einem Camp oder wild, und solange die Kotztüte noch nicht herumgereicht wird, bin ich halt wählerisch.

Ferienanlage für Betuchte ... Die Lösung aller Probleme kommt dann sehr plötzlich: La Bergerie, ein Hotel/Restaurant mit geharktem Zufahrtsweg durch einen sehr gepflegten Kakteengarten, lockt uns herein, und auf Nachfrage können wir uns auf dem Parkplatz einnisten. Selbstverständlich fühlen wir uns verpflichtet, essen zu gehen, was sich angesichts des rustikal gestalteten Lokals mit Hüttenambiente nicht als sonderliche Qual herausstellt. 

Es scheint sich um eine Ferienanlage für betuchte englische Touristen zu handeln, die in ihrer Exklusivität vielleicht auch nur im Programm eines englischen Veranstalters zu finden ist. Jedenfalls ist die Verkehrssprache heute Abend eindeutig Englisch, und auch wenn man es aufgrund dieses Umstandes nicht vermutet - das Essen ist erstklassig. Wir haben auf den letzten Kilometern schon einige dieser First-Class-Herbergen hier am Nordhang des Atlas entdeckt, und das nahe Marrakech ist wohl der zuverlässige Kundenlieferant für diese Etablissements. Also von Bed & Breakfast weit entfernt - eigentlich nicht unsere Kragenweite - ist die Bergerie aber doch mal was ganz anderes, und so oft gibt´s halt keine "Tajine de Boeuf aux Prunes" - serviert am knackenden Kaminfeuer ...


© 2007 Detlef Bauer