Kraftvoll
Und majestätisch
Liegt der Atlas
Rotes Feuer im Abendlicht
Marokko

Vorwort

Und wieder stehen wir an Deck eines dieser High-Speed-Katamarane, die Mensch und Auto über die Straße von Gibraltar nach Ceuta verfrachten. Der Antrieb quirlt das Wasser in hohem Bogen zum Affenfelsen zurück und schleudert den Doppelrumpf mit etwa 40 kn dem Djebel Musa entgegen, eingehüllt wie fast immer in einen Wattebausch. Die späte Sonne blinzelt darunter hervor und produziert magisches Streiflicht. Ich überlege, ob wir das Küstengebirge zwischen Tanger und Ceuta schon jemals ohne Wolken gesehen haben?

Das Boot brüllt und vibriert wie eine Raubkatze auf dem Sprung, und jeder Wellensprung lässt den Musagipfel höher werden. Modernste Technik also, die einem Mut macht und falsche Gedanken überlagert: Nein, hier geht es nicht ins Mittelalter zurück, sondern hin zur Exotik eines anderen Kontinents. Afrika.
Bei diesem Wort - Afrika - läuft mir immer ein leichter Schauer den Rücken hinunter: Es hat etwas Mystisches und Aufregendes in sich, man assoziiert damit sofort bestimmte Erlebnisse und Vorstellungen, die einerseits in grenzenloser Vorfreude und andererseits in gewisser Mulmigkeit münden. Das Unterbewusstsein lässt sich nicht täuschen und weiß genau, dass das hier nicht eine Butterfahrt nach Helgoland ist.

Assoziation bestimmter Erlebnisse und Vorstellungen ... Es ist aber auch legitim, sich kluge Gedanken zum weiteren Ablauf der Reise zu machen und das durchaus vorhandene Risiko eines jeden Kilometers auf afrikanischem Boden zu kalkulieren. Ist man 23 Jahre jung, reist man mit dem Daumen und dem Billigflieger während der Semesterferien nach Afrika und denkt sich: was kostet die Welt? No problems at all! Bereits in den Vierzigern, mit großem Auto, zwei Kindern und beruflichem Zeitfenster hat man Verpflichtung, Verantwortung und Lebenserfahrung genug, um die Widrigkeiten des Alltäglichen auf solch einer Reise zu kennen. Da ist eine gewisse Planung unabdingbar.

Aber: Wir setzen hier ja nicht das erste Mal über, und auch ist Marokko keine Bananenrepublik hinter den Bergen, sondern ein stolzes Königreich mit modernem Gepräge und einem aufgeschlossenen Oberhaupt - also eine funktionierende Monarchie mit florierender Wirtschaft und guter Infrastruktur. Zweifelsohne kommt dem Land seine geografische Nähe mit kurzen Transportwegen zum EU-Land Spanien zugute, und das gemäßigte Wetter - beeinflusst durch den atlantischen Kanarenstrom - trägt das seine dazu bei; Hungersnöte und Wasserknappheit wie anderswo in Nordafrika sind selten wie gar nicht vorhanden, und den Menschen geht es relativ gut. Also alles kein Grund für Reisewarnungen jedweder Art ...

Trotzdem gehen mir diese Gedanken seltsamerweise immer wieder auf der Fährpassage nach Marokko durch den Kopf, so als ob man sich selber Mut zusprechen muss, jetzt diesen "Point Of No Return" zu überschreiten (genau genommen hat man ihn ja bereits mit dem Ticketkauf in Algeciras überschritten!). Vielleicht ist es unsere Vollkaskomentalität, die uns Deutsche davor warnt, den finalen Schritt auf unterversichertes Terrain zu wagen. Schlagworte wie landesweites Notrufsystem, Gesundheitswesen, Abschleppdienste und Ersatzteilversorgung lassen uns zuhause beruhigt in den Sessel sinken, bewirken aber in einem afrikanischen Land genau das Gegenteil. 

Aber das wird mir wohl auch noch beim 10. Mal so gehen, davon bin ich überzeugt ...

Die Grenze

Algeciras´ Containerhafen mit seinen riesigen Lastkränen verschwindet also hinter der aufgewühlten Gischt. Apropos Algeciras: Wie sehr man bereits unter Strom steht, wenn einem der Wind Afrikas ins Gesicht bläst, beweist eine kleine harmlose Begebenheit beim Ticketkauf: Man wird als Nicht-Ticket-Besitzer von unzähligen warnwestentragenden Ordnern direkt auf einen Parkplatz gelotst, um die Schalterhalle aufzusuchen. So weit, so gut - alles scheint vorbildlich geregelt zu sein. Vor dem Portal zur klimatisierten Halle jedoch ist Europa - so denke ich - abrupt zu Ende, denn ein smarter, dunkelhäutiger Typ fängt mich ab, erkennt blitzschnell die Situation des beabsichtigten Ticketkaufs und geleitet mich mit Wortschwallen zielsicher zu einer bestimmten Agentur.

Als einigermaßen Marokko-Erfahrener läuten bei so einer Aktion direkt die Alarmglocken, und nur widerwillig folge ich dem vermeintlichen Schlepper, jederzeit bereit, den Rückzug anzutreten. Aber umsonst die Aufregung, er empfiehlt mir die Agentur, die ich aufgrund bestimmter optischer Parameter wahrscheinlich selbst auch gewählt hätte, es wird mir in netter Form ein Komplettangebot Hin-Rück einschließlich Camper und Kiddies für knapp 200,- EUR offeriert, das sogar günstiger als bei unserer letzten Überfahrt ist, und auch eine Vorausschau möglicher Abfahrtszeiten bei der Rückfahrt von Ceuta aus wird mir mit Kugelschreiber ins Ticket gekritzelt. Sagenhaft! Lächerlich erscheint mir jetzt meine Vorsicht, aber sie ist ein Beweis dafür, wie sehr die eigene "Firewall" bereits am arbeiten ist ...

Ein fantastisches Land kennen- und lieben lernen ...Eine Reise durch Marokko ist widersprüchlich, gegensätzlich, nicht kalkulierbar und erfordert ein gesundes Nervenkostüm. Loslassen von eigenen Marotten, Einlassen auf den Takt des Landes, Drang zu Unbekanntem, Lust auf Abenteuer und Offenheit gegenüber allem, was zwischen Sonnenauf- und -untergang passiert ... - das sind Tugenden, die hilfreich beim positiven Gestalten der Reise sind. Keine Vorurteile, keine Animositäten, keine Ressentiments gegenüber wem oder was auch immer. Statt dessen grenzenlose Neugierde, das ist es, was einen treiben sollte.

Wer dazu bereit ist, wird ein fantastisches Land kennen- und lieben lernen. Man wird eigene Schwächen an sich entdecken und diese hinterfragen. Man wird erkennen, dass man als Deutscher geprägt ist von Verhaltensweisen, die sich nicht ohne weiteres ablegen lassen, aber man wird sich ihrer bewusst. Das bereits ist ein großer Schritt hin zur Toleranz jedem Andersdenkenden gegenüber. Auch ich zeige hier wieder Schwächen, wie die nächste Situation beispielhaft zeigt.

Die Grenzabfertigung Ceuta/Fnideq nämlich. Obgleich das Terrain erheblich vergrößert wurde und damit mittlerweile eine gewisse Übersichtlichkeit herrscht, ist es trotzdem immer noch ein Spießrutenlauf, den Schleppern zu entkommen oder nicht. Im Prinzip ist es klar, in welcher Reihenfolge die Stempel zu holen sind: 1. Passeintrag, 2. Autoeintrag, 3. Zollkontrolle. Aber die Tatsache, dass es 20 Grenzbuden gibt, 10 davon die Läden hochgeklappt haben, 5 davon besetzt sind und drinnen ein Uniformierter nicht das abstempelt, was draußen kaum leserlich draufsteht ... - das ist eine Mischung aus "Verstehen Sie Spaß?", "Was bin ich?" und "Spiel ohne Grenzen".

Der Schlepper nutzt die folgende Verwirrung und quatscht einen derart zu, dass man keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Die Gefahr besteht, dass man sich dieses Gesabbel aus lauter Höflichkeit unnötig lange anhört, bis einem letztendlich doch der Kragen platzt und man ein unflätiges "Dégagez la piste!" ablässt. Die Aberwitzigkeit dieser Situation erklärt sich dann, wenn sich der so Gescheuchte in letzter Verzweiflung dazu herablässt, um ein Cadeau zu betteln. Ja wofür? - frage ich mich. Für seine Unfähigkeit, mir vielleicht mit netter Freundlichkeit einige Dirham aus der Tasche zu ziehen? All diese an der Grenze herumlungernden Typen haben ein Gebaren drauf, dass es einem unmöglich macht, auch nur ein "Kadöchen" rüberzuschieben, obgleich man ja ihre Situation versteht angesichts dieser Werte, die da täglich aufs Neue die Grenze passieren ...

Merde! Da denkt man, ich bin cool, ich lass´ mich nicht aus der Ruhe bringen, und dann ... passiert genau das. Es wird mir klar, dass ich das Grenzprozedere schon eleganter gelöst habe. Die Endkontrolle in Uniform checkt dann die erforderlich Anzahl der Stempel, wünscht "Bonne route" - und wir sind drin. 

Da der Tag so gut wie gelaufen ist, geht es jetzt vorrangig um die Nachtlagersuche: Hier im Norden natürlich auf einem Camp, aufgrund der Grenznähe ist nichts anderes ratsam. Zu präsent sind noch die Fernsehbilder von sich im Gehölz versteckenden Schwarzen, die wirklich nichts mehr zu verlieren haben. Auch die an der Küste patroullierenden Gendarmeristen dürften nervöser als anderswo sein, und es ist wirklich sehr unangenehm, sich gerade mit einem Bierchen gemütlich auf die Nacht vorzubereiten und dann zu vorgerückter Stunde vom Schupo verscheucht zu werden ...

Wir lassen Tétouan also rechts liegen und fahren auf dem kurvigen Küstensträßchen weiter, bis im nächsten Dorf ein schmuckloses Camp mit obligatorischer Mauer ringsum am Weg liegt. Reingefahren, beim Patron rasch die Gebühren für eine Nacht ermittelt und einen Stellplatz unter halb vertrockneten Eukalyptusbäumen gesucht - fertig. Das Herstellen einer Stromverbindung mit einem der wenigen verfügbaren Anschlüsse - das Wort Steckdose wäre in diesem Zusammenhang nicht annähernd treffend - gestaltet sich als schwierig bis unmöglich, und nur mit dem Einsatz von Lüsterklemme und Elektro-Schraubendreher ließe es sich für alle Beteiligten einigermaßen sicher durchführen. So aber liegt es im Ermessen Allahs, das komplette Dorf in ewige Dunkelheit zu versetzen oder unser Mobil samt seiner Besatzung in Rauch aufgehen zu lassen. Keine Ahnung mehr, was ich da bei beginnender Dunkelheit verstöpselt habe, aber letztendlich ist Strom da und der Junior kann seinen Nintendo aufladen.

Zum Thema Elektroinstallationen haben wir in Afrika schon die absonderlichsten Dinge gesehen, die nur noch durch die allseits verwendeten Gasboiler getoppt werden, die in ihrer Funktionalität eher einer Kofferbombe gleichen als einem Heißwassergerät. Afrika halt, Improvisation an allen Ecken und Enden.

1. Tag

Bei etwas verschleiertem Himmel und gemäßigter Sonne geht´s am nächsten Tag weiter, und es tun sich wirklich schöne Panoramen in Richtung Mittelmeer auf. Dass wir trotzdem nicht "Ah" und "Oh" schreien vor lauter Begeisterung, liegt wahrscheinlich an unzähligen Griechenland-Urlauben, wo wir solche Aussichten auf´s Meer regelmäßig mit einem Sprung ins Wasser veredeln und die sich dann hübsch auftuende Bucht meistens auch noch für die anstehende Übernachtung in freier Wildbahn nutzen. Das bietet diese Küste natürlich nicht und ist auch nicht Zweck der Reise ...

Bei Oued Laou führt die Straße weg vom Meer durch die Schlucht des gleichnamigen Flusses Richtung Chefchaouen, landschaftlich richtig schön und für den ersten Tag durchaus ein Augenschmaus. Dann ist in dem nächsten Kaff auch noch Markttag, alles vom Gewürzkorn bis zur fetten Ziege wird auf der Straße feilgeboten, und dieser Tumult aus bunten Menschen, die uns - kurvend mitten durch die Ware - kaum wahrzunehmen scheinen, ist pures Afrika.

Wir stellen wieder mal fest, dass man doch ein, zwei Tage braucht, um im Rhythmus des Lebens hier mitzuschwingen und die Sinne auf das vorzubereiten, was uns in den kommenden zwei Wochen erwartet: Andere Hautfarben, bunte Gewänder, fremde Gestik, Lautsprechergeschepper des Muezzins, blökende Tiere und die kehlige, vokalarme Sprache der Araber. Die ganze Exotik eines Kontinents, die uns so magisch anzieht. Als wir kurz vor Chefchaouen wieder auf die Hauptstraße gelangen, haben wir uns eingenordet und sind endlich auch mental in Marokko angekommen. Die europäische Attitüde fällt ab und nur noch die uns vorwärts bewegenden 136 PS erinnern daran, dass dieses afrikanische Empfinden nur auf Zeit geliehen ist. Und das wollen wir jetzt auskosten ...

Chefchaouen fällt dem stringenten Zeitplan zum Opfer, obwohl wir im Vorfeld durchaus die Option einer Besichtigung eingeplant hatten. Aber wir wollen abends in Rabat sein, und so gibt es nur unsere typische Kurzbesichtigung aus dem Auto heraus: fahrend mitten durch´s Getümmel, so langsam wie irgend möglich, und hinten wieder raus. Das mag jetzt der Kulturbeflissene anprangern oder nicht; Fakt ist jedoch, dass man Prioritäten setzen muss was das Aussteigen betrifft, wenn man mit zwei Kindern reist. Jeder, der hier mitreden kann, kennt die Hölle auf vier Rädern, wollte man gnadenlos das Programm durchziehen, das der Reiseführer vorgibt, ohne das vorher mit den Kiddies besprochen zu haben - auch wenn ein klares Nein droht.

Rabat Mausoleum Rabat Hassanturm Und noch einmal: Am Hassanturm ...

Und so haben wir im Vorfeld der Planung die Taktik der Optionen gewählt, die die Route an dem vorbeiführt, was uns am interessantesten für diese Reise erscheint. Ist man dann in der Nähe, kommt diese Option auf den Prüfstand. Sprechen mehr als 50% aller Gründe (und aller Beteiligten) gegen einen ausgiebigen Stopp, wird halt Gas gegeben. Es ist auch schon vorgekommen, dass wir mit nicht definierbarer Trägheit überhaupt keine Lust hatten, den bequemen Sessel für eine olle Ausgrabung zu verlassen, weil sich alle gerade mit dem 360°-Kino bestens arrangiert hatten. Wir sind halt die typischen Autotouristen, anders wäre diese Art des Reisens auch nicht durchführbar.

Aber selbst mit der Prämisse permanenter Fortbewegung und dem Erleben ständig wechselnder Landschaft durch´s Autofenster stellt sich über den Tag eine gewisse Reizübersättigung ein, so dass wir zur Vermeidung von Stumpfsinn täglich für einen Höhepunkt sorgen, der quasi "Knaller des Tages" wird. Es ist nicht unwichtig, diesen Aspekt schon bei der Planung entsprechend zu berücksichtigen, damit sich nicht latenter Verdruss einstellt, wenn´s dann wirklich interessant wird. Heute ist der Knaller die Hauptstadt Rabat, wobei wir uns aber aus vorgenannten Gründen auch hier wieder schwerpunktmäßig auf den Hassanturm mit seinem Säulenvorplatz und das Mausoleum von Mohammed V konzentrieren.

Glanz am Hassanturm ... Es ist während der Besichtigung ein gespenstisches Licht, weil die tiefstehende Sonne immer mal wieder zwischen den dunklen Wolken wie ein Scheinwerfer durchstrahlt und die Bühne dramatisch ausleuchtet. Dann bekommen die goldenen, vielarmigen Skulpturen (Leuchter vielleicht, oder was immer sie auch darstellen sollen?!) an der Mausoleumstreppe einen überirdischen Glanz, während das grüne Dach den komplementären Kontrast dazu liefert. Die Soldatenwache in roter Uniform erträgt mit Stolz das Blitzlichtgewitter, und ob das Posen im Säulengang im Sinne Mohammeds ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Zumindest ist es ein Indiz dafür, wie weltoffen und tolerant auch der Islam sein kann.

Und noch ein Zeichen fällt uns auf, wie sehr das moderne Leben auch auf Marokko übergegriffen hat: Fotohandys sind die neue Leidenschaft der Stadtbevölkerung, wie schon die Einfach-"Portables" - wie sie hier genannt werden -, das Objekt der Begierde für jeden Berber sind. Da flanieren ganze Familien über den Säulenvorplatz, die Frauen verhüllt mit ihrem Haik, und fotoblitzen mit ihren Handys die Liebsten im Abendlicht. Ganz so, wie wir es tun - warum auch nicht, aber gegensätzlicher geht es kaum.

Es ist aber sehr beruhigend zu sehen, wie auch die marokkanischen Großstädter, die sich einen Teil ihrer Tradition - die Verhüllung im Freien zum Beispiel - bewahren wollen, trotzdem ihre Vorlieben, Wünsche und Träume in der modernen Zeit haben so wie wir. Man muss sich gerade am Beginn einer Afrikareise auch immer wieder zwingen, einen Chech nicht mit den Negativ-Schlagzeilen der Weltpresse zu verbinden und nicht Dinge damit zu assoziieren, die sich wahrlich nicht verallgemeinern lassen. Sie lieben ihre Kinder so wie wir es tun, das ist die Wahrheit, und an diesem Abend auf der Treppe des Mausoleums fühlen wir uns zugehörig als ein Teil dieser Welt - ungezwungen und selbstverständlich ...

Starke Scheinwerfer illuminieren mittlerweile die Szenerie, und die Kulisse verbreitet eine so schöne Atmosphäre, dass wir das Hereinbrechen der Dämmerung gar nicht registrieren. Für akustische Gänsehaut sorgt dann auch noch der Vorbeter im Mausoleum, der im Hocksitz direkt neben dem Schrein aus dem Koran liest. Draußen färben sich der Turm und die Mauern der nie fertiggestellten Moschee von glutrot bis dunkelbraun, die Kandelaber verbreiten heimeliges Licht und der Blick reicht vogelnestartig über den Bou Regreg hinunter auf die Häuserfront der Medina von Salé. Fast wie ein Gemälde. 

Das ganze Ensemble ist mal wieder ein Beweis dafür, dass es nicht immer das Monumentale, Spektakuläre sein muss, das Begeisterungsstürme entfacht, sondern auch die schlichte und einfache Anlage kann aufgrund der Gesamtwirkung und Einbettung in der Landschaft sehr zum träumen und schwärmen verleiten. Das ist dann in dieser Auswirkung meistens Glücksache, hängt sehr vom Wetter, von der Tageszeit und von persönlichen Befindlichkeiten ab und ist unter Umständen nicht beliebig reproduzierbar. Um so schöner und erinnerungswerter ist solch ein Erlebnis, wenn man es dann so empfindet ...

2. Tag

Was wir gestern Abend noch als Superidee empfanden, nämlich nach dem kulturellen Teil über den Fluss nach Salé zu fahren, um auf dem dortigen Camping International zu übernachten, erweist sich heute morgen als sehr zwiespältig.

Es schüttet wie aus Eimern ...Zum einen hat es in der Nacht angefangen zu schütten wie aus Eimern und hat aus dem ohnehin schon hässlichen Wiesenkarrée eine Schlammwüste werden lassen (genauso sehen die im Winter überfluteten CP´s an der Mosel aus). Zum anderen fängt jede zweite dieser Dickschiff-Besatzungen (Kennzeichen: Kurbelstütze, Auffahrkeil und elektrische Einstiegsstufe) wie verrückt an, mitten im Regen das Mobil zu waschen. Das Equipment wie von einer Gebäudereinigungsfirma dabei, schrubbt der eine die Markise, der zweite den Vorzeltteppich und der dritte die Heckleiter. Das ist nicht unsere Welt hier, und so verlassen wir frustriert diesen ganzen Mist. 

Es ist nicht das erste Mal, dass wir in Nordafrika im Regen versinken, und es macht wieder einmal keinen Spaß. Aber: Spätestens ab Casablanca wird´s aufhellen, davon sind wir überzeugt.

Das dauert dann doch noch bis El Jadida, wobei es nun auch schon völlig egal ist, weil wir die Autobahn benutzen und man landschaftlich auf dieser Strecke eh nichts versäumt. Schön ist, dass die Autobahn mittlerweile genau bis El Jadida fertiggestellt ist, und erst südlich davon fängt die schmale Küstenstraße an, von der man ständig einen Blick links in´s Land und einen Blick rechts auf Anbauflächen und Dünenwall hat. Bis Safi zieht sich die Straße leicht geschwungen auf dem Hügel parallel zum Meer entlang, und es macht Spaß, das landwirtschaftliche Treiben der Bauern mit ihrem teils mittelalterlichen Gerät zu beobachten. Dass das für den einzelnen teils große Schinderei bedeutet, können wir wenig ändern. Aber warum auch: Die Ackerbauern hier gehören zu den Glücklichen, die sich nicht nur selbst versorgen, sondern unter Umständen noch einen Teil ihrer Ernte verkaufen können - nicht unbedingt selbstverständlich für die Landbevölkerung ...

Hier beim Cruisen zeigt sich der Vorteil des größeren Kastenwagens: Im Vergleich mit unserem vormaligen T4 sitzt man doch erheblich höher hinter großflächiger Verglasung, so dass diese wechselnden Panoramen ähnlich der Sicht aus einem Zugfenster sind. Ein paar Mal ertappe ich mich dabei, derart relaxt am Steuer dahin zu gleiten, dass ich fast aufgestanden und nach hinten zum Klo gegangen wäre. Wir, die wir das Autofahren weder aktiv noch passiv als Qual empfinden, können auf diese Weise sehr elegant und relativ komfortabel reisen, und nur so ist diese beschriebene Tour auch durchzuführen, ohne einen größeren Koller zu bekommen.

Jetzt am Nachmittag greift wieder unser Optionsmodell: Haben wir schon die Besichtigung der Cité des Portugaise von El Jadida gestrichen, weil alles unter Pfützen stand und die Sonne sich erst südlich davon bequemte, mal die Wolken zu durchbrechen (war also nichts mit "hinter Casa klärt´s auf!"), so canceln wir jetzt auch noch die mögliche Übernachtung am Strand von Oualidia. Laut Reiseführer versprachen wir uns im Vorfeld mehr davon, aber die Wirklichkeit besteht aus mäßig attraktivem Häuserensemble im Wochenendstil, dessen Wege zu allem Überfluss auch noch mit Campmobilen aus ganz Europa zugestopft sind. Überall wird gebruzzelt, aufgeräumt, geputzt, gespült und sich bierbäuchig vorm Mobil aufgebaut, um den Störenfried zu begutachten. Aufgezogen wie auf eine Perlenkette belagern sie dicht an dicht den Strandweg, nur mit dem Unterschied, dass eine Perlenkette schön ist. Rückwärtsgang rein, zurückstoßen und bloß weg hier!

Auf unsere Vorstellung eines schönen Stellplatzes treffen wir dann wenige Kilometer weiter südlich: Ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift Plage Karram Daif weist in eine neue Asphaltpiste hinunter zum Strand, die an einem hübschen Marabut zwanzig Meter vorm Meer endet und einen schönen Blick auf den brandenden Atlantik erlaubt. Das ist nach unserem Geschmack, und nach der Strandwanderung, die das Reizklima von Neuharlingersiel doch erheblich übertrifft, beschließen wir über Nacht zu bleiben ...

Blick auf den brandenden Atlantik ...

Dabei sind wir bei Anbruch der Dämmerung keineswegs allein, denn alle Fischer des Dorfes oberhalb holen sich ihre meterlangen Bambusangeln aus einem Betonverhau und schwärmen aus. Einige Jungs und Mädchen müssen natürlich vor unserer Schiebetür Männchen machen - sie sind doch alle so schrecklich neugierig, wer da auf ihren Strand gespült wurde. Und ausdauernd sind sie auch, der letzte fragt noch gegen 23 Uhr nach einem Bonbon! Aber alle sind ausnahmslos nett und auch relativ schüchtern, kein patziges Gehabe oder ähnliches. Wahrscheinlich verirrt sich selten ein Tourist hierher, die bleiben wohl alle in Oualidia hängen ...

Abends hole ich einen Topf Meerwasser, darin werden leckere Pellkartoffeln gekocht, und wenn ich jetzt noch wollte, dass mir die Schuppen um die Ohren fliegen, hätte ich einem Angler noch einen dicken Grillfisch abgekauft. So aber bleibt´s bei einer Dose Thunfisch (womit ich mich dann - wegen der Wahl des Fisches - definitiv als Ökoschwein oute! ). 

Die Schlechtwetterfront haben wir nun wohl endgültig hinter uns gelassen, und Sterne glitzern auf dem Meer. Es riecht nach Tang und Salz, der Nachtwind streichelt das Blech unseres "Kamels", und als ob das noch nicht reicht, gibt die letzte Wolke einen Fast-Vollmond frei, der die Nacht zum Tage macht. Es gibt Gefühlsmomente, die einem kein Campingplatz der Welt bieten kann, egal wie viele Waschmaschinen und Bügelbretter er hat, und dieser ist so einer. Das sollte übrigens unsere einzige wilde Übernachtung in Marokko bleiben ...

3. Tag

Gemütlich starten wir den Tag, und ein Blick auf die Karte offenbart die Fortsetzung der Küstenstraße über Safi bis nach Essaouira. Dort soll dann abends Schicht sein. Das einzige, was jetzt schnellstens erledigt werden muss, ist das Tanken. Doch Safi´s scheinbar einzige Tanke lassen wir noch hochnäsig liegen, und als es dann nach dem fünften "10 km gehen noch!" wirklich ernst wird, taucht in einem Bauernkaff eine ziemlich versudelte Garage wie eine Fata Morgana auf. Der Witz ist, dass eine Zapfsäule sogar "Gasoil-350" bereithält, für welches ich mich nach zögerndem Blick auf den Einfach-Diesel auch entscheide. Dem Blaumann mit Käppi ist es scheinbar vollkommen egal, was er mir einflößt, aber die Alternative sieht sehr nach Traktordiesel oder schlimmerem aus ...

Es sei hier vorweggesagt: Der Billigdiesel - etwa 70 (Euro)cent - tut´s allemal. Wir haben ihn ab der Westsahara mehrmals getankt, und außer gewöhnungsbedürftigem Gestank und einer beim Beschleunigen starken Rauchwolke ist nichts Negatives aufgefallen - noch nicht mal sonderlich erhöhter Verbrauch. Zumindest den Transporterdieseln mit Common-Rail-Technik braucht man also kein teures Zeug einzufüllen.

Wir fahren jetzt meerseitig an einem Berghang entlang, die Landschaft wird etwas ursprünglicher, weil die bisherige Zersiedlung rapide abnimmt. Kilometerlang zieht sich ein weitläufiger, teils bewachsener Dünengürtel rechts unterhalb hin und bietet kurzweiliges Sightseeing aus dem Fenster - nicht so grandios und verlockend, dass man unbedingt eine Piste zum Meer da hindurch suchen wollte, aber schön für´s Auge an diesem sonnigen Vormittag. Lediglich die Temperatur hält sich mit knapp 20°C doch sehr zurück ...

Flugakrobatische Seemöven ziehen fast den Scheitel ...

Essaouira: Was für eine Stadt. Wo soll man anfangen, sie auch nur annähernd so zu beschreiben, dass ihr Flair und ihr Charme hier beim Lesen rüber kommt? Schön für den erstmaligen Besuch ist sicherlich die Annäherung von Süd, die fast automatisch geschieht, folgt man nur der Beschilderung.

Man parkt kostenpflichtig vor oder am Hafen, und hat dann beim Aussteigen Blick auf den Fischereihafen mit seinen bunten Booten, darüber Tausende von schreienden Seemöven, die einem mit ihrer Flugakrobatik fast den Scheitel nachziehen, und unweigerlich bleibt der Blick an der kolossalen, pastellfarbenen Stadtmauer und der da hinein gequetschten Medina hängen. Diese Ansicht nimmt einen so in Bann, dass man einfach nur fasziniert ist. Ich vergleiche es mit dem Geruch frisch gemahlenen Kaffees - jeder empfindet ihn als sehr angenehm, ob er ihn nun trinken mag oder nicht. Man kann ein Freund städtebaulicher Architektur sein oder diesbezüglich ein Banause, aber selbst der würde entzückt von diesem Anblick sein ...

Essaouira, Fischereihafen ...

Da wir nun schon das zweite Mal hier sind, halten wir uns nicht mit spontanem Jubel auf, sondern gehen gleich an´s Eingemachte: Die Parkplatzsuche endet auf einem 24/24h-Parkplatz für Wohnmobile direkt an der südlichen Stadtmauer. Man steht zwar so eng, dass sich die Aufstellfenster verhaken, dafür aber sehr viel zentraler als auf dem offiziellen CP an der Ausfallstraße nach Agadir. Auch hier spielt der ausgebaute Kastenwagen seine Karte aus, da er doch ein Mindestmaß an Intimsphäre gegenüber einem Kombi oder Bus ermöglicht. Die ebenfalls dort parkenden Integrierten spielen natürlich in einer anderen Liga, aber dafür brauchen sie auch eine Stunde, um heil aus dem engen Loch heraus zu kommen ...

Dieser Standort garantiert uns also mehrere Streifzüge durch die Medina mit zwischenzeitlichen Pausen und Erfrischungen im Auto. Das macht - zumindest für uns als Familie - durchaus Sinn, denn Essaouira hat mittlerweile fast ein Preislevel wie an der Côte d´Azur erreicht. Diese Entwicklung trägt halt dem internationalen Publikum Rechnung, und es ist ja auch schön, am Hauptplatz, der sich zum Hafen hin öffnet, in einem der Cafés seinen Drink zu nehmen und das Treiben zu beobachten.

Es ist eine ganz eigenartige Mischung Mensch, die hier scheinbar sehr harmonisch das Städtchen bevölkert: Die Händler in ihren kleinen Geschäften in den Medinagassen, wo man vom Kaugummi bis zur 5-Kilo-Trommel Dash alles bekommt. Die Handwerker in ihren Gästeklo-großen Werkstätten, wo gedengelt und gehämmert und geschweißt wird, dass einem die Funken beim Vorbeischlendern in die Schuhe springen. Der Jetsetter, der Armani-gekleidet im Nobelcafé seinen Capuccino rührt und sich mit seiner braunbeinigen Begleitung schmückt. Die Bedienungen, Köche und Zimmermädchen der unzähligen Etablissements, die nach ihrer Schicht nur noch dem Trubel entweichen wollen und nach Hause eilen.

Kleine Geschäfte in den Medinagassen ...Plötzlich hängen einem Lammhälften am Haken vor dem Gesicht, dann hacken ein paar Hühner mit wütenden Schnäbeln durch die Käfigstäbe. In einer dunklen Nebengasse steht eine Tür halbauf und es dringt ein Geschwafel nach draußen, dass an eine Auktion erinnert. Vorsichtig spähe ich hinein - bestimmt zwanzig Männer auf engstem Raum an Tischen beim Kartenkloppen und Rauchen. Beißend ist der Gestank, und ich möchte gar nicht wissen, was da im einzelnen gequalmt wird ..!

In der nächsten Gasse geht´s weniger derb zu: Galeristen haben hier wunderschöne Ateliers eingerichtet, in denen Vernissagen von vielen unbekannten Künstlern das Thema Marokko aufgreifen. Ruhig und andächtig ist es hier drin, fast wie in einer Kirche, und die Leute verweilen lange mit schiefem Kopf vor den Exponaten. Allein ein Streifzug durch diese Bilderflut würde Tage beanspruchen, wollte man sich denn intensiver damit beschäftigen. Lohnend wäre es allemal.

Dazwischen gibt es immer wieder versteckte Kleinode von Restaurants, wunderschön dekoriert im orientalischen Stil. Die Qualität der Küche kann ich von draußen schlecht beurteilen, aber es duftet herrlich nach gebackenem Fleisch und der typisch afrikanischen Gewürzmischung. Natürlich ist manches auch für den kurzweilenden Touristen aus Agadir hergemacht, entsprechend teuer und kitschig, aber man hat doch die Wahl.

Und dieser Tourist - wobei ich mich auch hier einreihe - komplettiert dann auch den bunten Menschenschlag Essaouiras, aber so unauffällig, dass es einem nicht sauer aufstößt. Wobei die Einheimischen das ihre dazu tun, denn man wird im Gegensatz zu anderen touristischen Brennpunkten doch sehr in Ruhe gelassen. Es ist einfach eine sehr entspannte Atmosphäre, die der Rabats gleicht, aber ohne diese großstädtische Attitüde. Essaouira ist ein Dorf, und das macht es so liebenswert ...

Ach ja, die Fischer am Hafen habe ich vergessen zu erwähnen: Auch sie sind eine Komponente dieses kulturellen Konglomerats und vertreten einen ganzen Industriezweig, der immer mehr zum Sozialprodukt Marokkos beiträgt. Aber was auf dem Meer harte Arbeit ist, wird hier auf der Hafenmauer noch recht beschaulich demonstriert: Man verdient sich etwas dazu, indem man die eben gekauften Fische von Schuppen und Innereien befreit. Diese Ekelhaftigkeiten werden dann hinterrücks entsorgt, und nicht selten landet der Darm schon vorm Aufschlag im Mövenschnabel. Ein lustiges Spiel also, und man fragt sich: Wer hält denn hier den Highscore? Wen das Mövengekreische auf Dauer nicht stört, wer sich unempfindlich gegen Fischgestank zeigt und nicht gerade eine Vogelphobie hat, der kann es ein paar Stunden bis zur Abenddämmerung hier aushalten.

Im letzten Rot des Tages stehe ich auf einer Kanone an der Westseite der Stadtmauer, und spontan finden sich junge Marokkaner zum Gesang mit Gitarre ein. Sie haben sichtlich Freude und Spaß angesichts dieser Location, und auch von mir fällt der ganze Mist des Alltags ab, als ich sie scherenschnittartig gegen den violett-grauen Ozean filme. Alles ist so einfach und so schön ...

Kolossale Stadtmauer ...

Eine Sauerei gibt es aber doch noch heute Abend: Unser Campingklo ist voll, und als ich den Parkwächter - etwa 20jährig und mit wichtiger Warnweste - darauf anspreche, hat er natürlich die Lösung: Ein Gullydeckel aus Stahl, mit Mühe hochgehievt, beseitigt das Problem. Deckel wieder schwer böllernd drauf fallen lassen, alles klar. Nun haben wir weder schwere Geschosse noch Chemiebomben im Potti, so dass sich für mich die Umweltsünde in Grenzen hält. Aber das kann der Typ ja nicht wissen und letztendlich macht´s dann doch die gesamt anfallende Menge. Anzahl der Mobile mal Personen mal Verweildauer gleich riesiger Haufen Scheiße! Wer weiß, wo dieser Schacht endet, aber selbst wenn es ein öffentliches Abwassersystem gibt - ob das mit der geballten Chemie fertig wird ..?

Ich prangere hier nicht an, weil ich mich in solchen Momenten auch nicht ziere, sondern erzähle nur ungeschminkt, wie es ist. Eine generelle Lösung des Problems gibt es hier sowieso nicht, weil das Verhältnis qm Bodenfläche/Einwohner dafür sorgt, immer genügend Abkippraum für jeden erdenklichen Müll zu haben. Solange man seinen eigenen Mist entsorgen kann, ohne dass es dem Nachbarn über die Füße schwappt, solange wird das Thema keines sein. Zumindest habe ich jetzt hier auf dem Parkplatz ein begrenzt schlechtes Gewissen, und wir erinnern uns an die Szene im Film "Es weihnachtet sehr" mit Chevy Chase, als der prollige Verwandte seine Campergülle ebenso entsorgt und des nachts der ganze Kanal in die Luft fliegt. Als ich vorm Schlafen noch einmal die Nase aus dem Auto stecke um zu checken, welche Typen sich so in der Nähe herumtreiben, meine ich, einen grünlichen Schimmer unter dem Kanaldeckel zu sehen ... 


© 2007 Detlef Bauer