Lettland, 27.08.04: Durch eine vergangene Zeit ...

Am späten Abend und in der Nacht hat es anhaltend geregnet. Über klatschnasse Wiesen und Feldwege brechen wir heute morgen auf nach Ludza: Auch hier sind viele schöne alte Holzhäuser, jedoch oft in schlechtem Zustand. Die orthodoxe Kirche mit ihrer leuchtend blauen Kuppel wird gerade wieder hergerichtet ...

Die leuchtende Kuppel der orthodoxen Kirche ...

Hauptstraße in Ludza ...
Kein Dreckspritzer an Bein und Rock ... Touris: Weit entfernt von traumwandlerischer Sicherheit ... :-)

Auch hier im Ort ist die Hauptstraße eine Lehmpiste. Dennoch sieht man gut gekleidete, sorgfältig geschminkte Frauen in langen dunklen, zum Teil geschlitzten Röcken oder Hosen aus schwarzem Samt, die sich auf hochhackigen Schuhe mit traumwandlerischer Sicherheit über diese Straßen bewegen. Auf uns wirken sie etwas "aufgebrezelt". Umgekehrt müssen wir in unseren Jeans, Sweatshirts und Westen eher abgerissen und heruntergekommen wirken. Während nach wenigen Metern die eigenen Hosenbeine bis zu den Knien hoch voll von Lehmspritzern sind, bleiben die Röcke, Hosen und Schuhe der Damen sauber: Selbst das wackelige Brett, das in einer gigantischen Lehmpfütze vor dem Markteingang liegt, wird mit Geschick überquert ...

Blumen sind wichtig! Markt in Ludza (man beachte die Schuhe der Frauen)

Latgalen ist eine arme Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit. Das sieht man auch auf dem Markt: Alte Leute mit einer Tüte Fisch oder fünf Knoblauchzwiebeln oder zehn Tomaten versuchen hier mit ihrem kargen Angebot einige Cents zu verdienen. Auch hier herrscht Russisch als Sprache vor, was nicht verwunderlich ist. Früher haben in Latgalen viele Juden gelebt. Unter deutscher Besatzung wurde die Region grausam entvölkert. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Russen hier Bauern aus Russland angesiedelt, weshalb die Letten in der Minderheit sind.

Kreisverkehrsrätsel ?!?Unsere Reise führt weiter Richtung Süden: Uns fällt schon auf, dass Kreisverkehre recht beliebt sind, aber an einem von ihnen stockt uns doch der Atem und ein altes Trauma erwacht: Hatten die Briten aufgrund ihrer Erfahrung mit dem Magic Roundabout hier etwa einen Beratungsauftrag?

Die besten Auflösungen für dieses Verkehrsrätsel, die uns per Email erreichen, werden hier veröffentlicht. Versprochen! (Anm. der Red.: Siehe dazu Nachtrag unten).

Dank des geringen Verkehrs kommen wir unbehelligt durch den Irrgarten und wir sind sicher: Wir haben alles falsch gemacht und nichts so beachtet, wie der Planer sich das ausgedacht hat.

Die Fahrt durch Latgalen ist wie eine Reise durch eine vergangene Zeit: Leere Schotterstraßen, viel unberührte Natur mit Wäldern und Wiesen, verschlafene kleine Bauernhöfe, einsame blaue Seen, Pferdefuhrwerke, ...

Wir wollen auf einer Nebenstrecke quer durch zum Raznas See. Es gibt hier aber sehr viel mehr Kreuzungen und Wege als in unserer Karte. Mit Hilfe des GPS glauben wir schließlich unseren Abzweig  gefunden zu haben. Jedoch immer wieder gabelt sich der Weg erneut und wir nähern uns einem Bauernhof. 

Kurz darauf sind zwei junge Männer und eine junge Frau zu sehen, die heftig winken. Es ist eindeutig: Sie wollen uns anhalten und nicht weiter fahren lassen. Nachdem das Fenster geöffnet ist, ergießt sich ein Schwall Fragen auf Russisch ins Cockpit. Wohin? Woher? Warum? Obwohl es noch früher Vormittag ist, werden die Fragen von einem heftigen Wodkadunst begleitet: Der junge Mann muss sich immer wieder am Fenster festhalten, um die Balance nicht zu verlieren.

Auch sein Begleiter versucht wortgewaltig mit einer nicht geringeren Alkoholfahne zu erklären, dass wir hier falsch sind. Sie sind jedoch sehr freundlich und geben sich alle Mühe, uns den Weg lallend zu erklären. Einen Großteil verstehen wir sogar. Aber der Service geht noch weiter. Nachdem wir uns ausführlich bedankt und mehrmals versichert haben, dass alles klar ist, springen die drei in ein für unsere Begriffe schrottreifes Auto am Straßenrand, aus dessen Kofferraum ein Fahrrad hängt. Mit halsbrecherischem Tempo rasen sie über die Piste davon. 

Bis wir gewendet haben, sind sie verschwunden. Wohin? Wir folgen dem empfohlenen Weg und an der ersten Kreuzung sehen wir wieder das Auto stehen und die drei hilfreichen Geister, die erneut die richtige Richtung weisen wollen. Wieder wird der Weg erklärt: "Immer gradaus, am Schild dann links". Nochmals sind überschwänglicher Dank und wortreiche Verabschiedung angesagt, heftig wird hinter uns her gewunken. Für die drei waren wir sicher eine abenteuerliche Begegnung, von der sie sich noch lange erzählen werden (falls sie sich am nächsten Tag noch daran erinnern sollten). Wir ziehen daraus die Konsequenz, um jede Kurve künftig noch vorsichtiger herum zu fahren: Sicher waren die drei Promilleraser kein Einzelfall in dieser Gegend ...

Bald erreichen wird das angekündigte Schild und wenige Kilometer weiter sind wir am Raznas See, an dem auch gleich der Campingplatz ausgeschildert ist.

Relikte aus besseren Tagen ... Ehemalige Russendisko?!?

Der Campingplatz stammt aus einer Zeit, in der die verdienten Werktätigen der sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaaten ihren Urlaub hier verbracht haben: Eine verfallene Diskothek und verbeulte Schilder erzählen von besseren Tagen. Rings um den Campingplatz liegen in einem ausgedehnten Areal unzählige kleine Hütten. Der Campingplatz scheint geschlossen, aber eine Telefonnummer ermöglicht die Kontaktaufnahme und wenige Minuten später ist die freundliche Betreiberin da.

Zwischen den Miethütten und alten Tannen können wir uns einen Stellplatz suchen. Wir sind die einzigen Gäste. Die Frau erzählt, dass in der Nacht noch Gäste kommen würden. Wir denken uns nichts dabei und suchen uns einen Stellplatz auf dem Hügel über dem See mit Seeblick. An den Tannen klopfen eifrig die Buntspechte ...

Kontaktaufnahme per Handy ... ... und kurze Zeit später ein schöner Stellplatz im Wald

Bis zum Abend werden noch einige andere Hütten bezogen. Das Wetter ist wieder so gut, dass wir draußen sitzen und den wunderschönen Blick auf den See genießen können. Welche Ruhe! Welch ein Idyll ..?! 


Nachtrag, Januar ´05: Auflösung des Verkehrsrätsels?

Kaum hatten wir die Frage gestellt, erreichte uns auch schon der erste Lösungsvorschlag zum obigen Verkehrsrätsel: Er kam von Michael Otte, der uns in der Nähe von Ludza eine Campingmöglichkeit geboten hatte und als guter Kenner der Situation vor Ort hier wohl durchaus ein Urteil abgeben kann:

Hallo liebes Explorer-Team,
als sozusagen "fast-Einheimischer" kann ich nur sagen, das die Beschilderung im lettischen Kreisverkehr folgendes bedeutet:

"Achtung! Keilriemen spannen vor der schnellen Befahrung des Kreisverkehrs!"   ;o)

Viele liebe Grüße
Michael Otte


© 2004-2005 Text/Bilder Sixta Zerlauth