Lettland, 26.08.04: Von West nach Ost ...

Am nächsten Morgen erwartet uns wieder trübes Wetter: Wir fahren zur nahen Stadt Cesis und wollen uns dort die Burg anschauen. Auch dies ist eine alte Hansestadt, die einst Wenden hieß. Außerdem diente Cesis als Verbannungsort von Maitressen, die am St. Petersburger Hof in Ungnade gefallen waren ...

Vor der Einfahrt nach Cesis gibt es ein Informationsschild mit einem Stadtplan: Doch die Burg ist nicht eingezeichnet. Die Stadt ist für LKWs gesperrt. Nach wenigen Metern weiß man auch warum: Die Straßen zwischen den teilweise alten hölzernen Häusern sind sehr eng und die Schlaglöcher haben bereits eine atemberaubende Tiefe und Dichte. Wer hier seine Reifen, Stoßdämpfer und Achsen schonen will, fährt freiwillig Fußgängertempo - für tiefer gelegte PKWs könnten Teile der Stadt vielleicht unbefahrbar sein. Auch in den Neubaugebieten ist die Straßenqualität nicht besser. Wir nähern uns dem Zentrum durch ein unüberschaubares Labyrinth von Einbahnstraßen. 

Endlich sind wir angekommen und suchen einen Parkplatz, ein Einkauf ist nötig. Kaum wagt man es, sich mit dem Fahrzeug dem Bordstein zu nähern, eilt schon eine resolute Dame mit Warnweste und eifrig mit Handy telefonierend herbei, um die Parkgebühr zu erheben: Schließlich werden hier die Parkplätze bewacht!

Alles bewacht! Das moderne Cesis ...

Die Einkaufsstraße ist belebt und es hat aufgehört zu regnen. Einige Blumengeschäfte sind zu sehen (das scheint hier sehr wichtig zu sein!), Drogerie, Apotheke und vieles mehr, aber kein Lebensmittelgeschäft. Also nutzen wir eine Technik, die bei früheren Aufenthalten in Russland weitergeholfen hat, um die oftmals versteckten "Kolchosmärkte" zu finden: Leute suchen, die Taschen mit Lebensmitteln tragen und diesen Leuten entgegen gehen. Fragen wäre natürlich auch eine Option gewesen. Aber schnell finden wir einen Eingang zu einem Hof, in dem sich der Markt verbirgt. Frische Produkte aus der Region werden hier feil geboten. Es ist die Zeit, Gurken einzulegen: Nach Größe sortiert liegen sie auf den Marktständen zusammen mit fast mannshohen Dillstauden. Frische Pfifferlinge und Steinpilze, Tomaten, Kartoffeln, Kohl und einige Paprikas ergänzen das Angebot. 

Zwei Markthallen gehören dazu: Eine Halle mit Milchprodukten, Broterzeugnissen usw., die andere Halle mit Fisch und Fleisch. Dies erinnert an Regeln der koscheren Küche. Wir vermuten, diese Aufteilung der Markthallen, die wir später auch noch in der Region Latgalen vorfinden, entstammt der Zeit, als in Lettland noch große intakte jüdische Populationen ansässig waren. 

Beeindruckend sind die vielen Stände, an denen Speck verkauft wird: Es scheint eine Spezialität zu sein und so muss ein Stück mitgenommen werden. Das erweist sich als gute Idee, denn der Speck schmeckt köstlich!

Wir beginnen unseren Einkauf mit 5 Lats (ca. 7,50 EUR). Der Korb füllt sich: Gemüse, Obst, dunkles duftendes Brot, Puddingschnecken, Räucherfisch, Eier, Schweineschnitzel und Speck - das Geld verringert sich kaum. Überall wird noch geschickt der Abakus für die Erstellung der Rechnung genutzt. Manchmal liegt zwar ein Taschenrechner daneben, aber durchgesetzt hat sich diese Hochtechnologie offenbar noch nicht: Ist der Verkäufer nicht sicher, ob man den Preis verstanden hat, hält er einem gleich den Abakus unter die Nase. Man sollte jedoch schon vorher einmal einen Abakus kennen gelernt haben, falls man ihn hier schnell und richtig ablesen will ... 

Auf dem Markt werden wir immer auf Russisch angesprochen, die Preise werden uns russisch genannt. Auch untereinander sprechen die Marktfrauen Russisch. Aber wie in Estland sind auch hier die Leute sehr zurückhaltend. 

Typisches Holzhaus in Cesis Das Neue Schloss ...

"Langer Herrmann" der Burg ...

... und der Nordturm mit Bühne ...

Im Zentrum der Stadt liegt die Burg Cesis, eine sogenannte Livonische Ordensburg. Der Parkplatz liegt vor der Polizeistation, er ist kostenlos und wird nicht bewacht. Der Bau der Burg wurde vom Schwertbrüderorden im Jahre 1209 begonnen, bis ins das 16. Jahrhundert hinein wurde an ihr immer wieder weiter gebaut. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts schließlich wurde die Burg teilweise zerstört und aufgegeben. Mittlerweile ist die Ruine ist wieder restauriert worden und am Fuße der Burg ist eine Bühne errichtet. Neben der Burg befindet sich das Neue Schloss, das Ende des 18. Jahrhunderts errichtet wurde und heute ein Museum ist.

Wir sind froh, als wir durch die Einbahnstraßen wieder aus Cesis herausfinden und unsere Reise Richtung Madona fortsetzen können, nahe der weißrussischen Grenze. Allmählich bessert sich das Wetter. Wir schalten unseren CB-Funk an: Auf einigen Kanälen - auch AM - wird heftig gefunkt ... 

Zwischen Cesis und Madona haben sich die gigantischen Herkulesstauden stark ausgebreitet: der Beginn einer ökologischen Pflanzenkatastrophe. Denn die Stauden wurden - wie auch bei uns in Deutschland - eingeschleppt, sind sehr giftig und nahezu unverwüstlich. Dort wo sie wachsen, verdrängen sie viele andere einheimische Pflanzen.

Herkulesstauden breiten sich aus ...

Madona können wir umfahren, so wie das hier bei vielen Orten möglich ist. Weiter geht es nach Ludza in der Region Latgalen. An vielen Autoreparaturwerkstätten kommen wir vorbei. Sie sind sicher ausgelastet bei diesen schlechten Straßen und dem flotten Fahrstil der Letten. Überholen vor einer Kuppe und sogar das Überholen eines Überholers vor einer Kuppe mit breiterer Straße gehört hier zu den Standardübungen. Nur dem geringen Verkehr ist es zu verdanken, dass es nicht ständig zu schwersten Unfällen kommt ...

Wer es sich leisten kann, fährt hier Geländewagen. Das ist zweckmäßig bei den "Stadtpisten" mit Lehmbelag, Schlaglöchern und Bodenwellen. 

In Ludza holen wir die Wegbeschreibung von Michael Otte heraus, dessen Webseite "Urlaub in Lettland" wir entdeckt hatten: Bei seinem Haus ca. 5 km entfernt von Ludza dürfen wir übernachten (N56,5973° E027,6784°). Er bietet an, dass man auf seinem Grund, zu dem auch ein See gehört, campen darf. Wer mag, darf auch angeln - vor uns haben die Fische allerdings ihre Ruhe ...

Wir fahren zunächst zu seinen Nachbarn Voldemar und Mara, die den Schlüssel verwalten: Dort werden wir von einem aufgeregten Gänsepaar empfangen, das nonstop schimpft. Beide Gänse rennen und schimpfen völlig synchron, der Spitzname Kesslerzwillinge ist schnell gefunden. Und je mehr wir über ihren komischen Auftritt lachen, um so mehr kommen die Gänse in Fahrt und beschimpfen außer uns auch die freilaufenden Hühner, den jungen verspielten Hund und jedes andere Lebewesen, das ihnen zu nahe kommt.

Das Empfangskomitee: Die Kesslerzwillinge ... Ein typisch lettisches Haus ...

Auch hier sieht man: Es ist Gurkeneinmachzeit. Im Flur bei Voldemar stapeln sich die Gurkengläser, appetitlich gefüllt und mit Dillzweigen gewürzt.

Das Haus von Michael Otte ist ein altes traditionelles lettisches Holzhaus, dessen Fenster mit Holzschnitzereien verziert sind. Es wurde im Jahr 1939 aus Kiefernbaumstämmen, ganz ohne Nägel, erbaut. Die Ritzen wurden mit Flachs zugestopft. Ursprünglich war es mit Reet gedeckt. Im späteren Verlauf wurde das Haus dann mit Teerpappe verkleidet, so wie viele andere Häuser auch, damit die Zugluft abgehalten wird.

Der Erbauer wurde 1944 von den Russen erschossen. Die Witwe lebte dort viele Jahre weiter von Landwirtschaft, Fischfang im See und nicht zuletzt von der Schwarzbrennerei.

Da es noch unbewohnt ist, treten wir ein, um es uns anzusehen: In der Küche steht eine große schöne "Kochmaschine", ein kombinierter Ofen/Herd, der mit Holz  beheizt wird. Dieser Grundofen dient als Herd, Backofen und Heizung. Er ist mit einer Art Kachelofen verbunden, der fast Wandgröße hat und in die "gute Stube" eingebaut ist. Eine Banja (russische Sauna) und ein Kellerraum für die Lagerung von Lebensmitteln sind typisch für diese Art Haus.

Fließend Wasser gibt es nicht im Haus. Im Garten steht ein "Häuserl" und über der Straße ca. 25 Meter weit findet sich ein 5 Meter tiefer Brunnen mit guter Wasserqualität, der auch im Winter frostfrei bleibt. Aber auch das Seewasser ist von guter Qualität. Das Leben hier ist nicht von Luxus geprägt, sondern von Naturnähe.

Hier kann man es gut aushalten: Zu Gast bei Michael Otte ... Ein bisschen Offroad muss schon sein ...

Im verwilderten Garten stehen Stachelbeersträucher mit kleinen reifen schwarzroten Beeren, die sehr süß schmecken. Obwohl ich keine Stachelbeeren mag, muss ich hier naschen, denn diese Sorte ist wirklich köstlich.

Leider hat der Zahn der Zeit äußerst heftig am Holz genagt und Michael Otte wird noch viel Arbeit in das hübsche Haus stecken müssen, um es wieder herzurichten. Zusätzlich plant er noch die Errichtung eines Naturcampingplatzes mit einigen Stellplätzen. Wer mehr wissen will, kann seine Seite besuchen oder ihm eine Mail schicken.

Wir stellen uns auf eine abgemähte Wiese nahe dem Seeufer: Das Wetter hat sich nun endgültig gebessert und wir genießen den friedlichen Abend.

Im Radio wird viel weniger internationales Repertoire gespielt als in Estland, die Letten haben Spaß an eigener und offenbar auch an deutscher Musik: Die "Ärzte" und die "Toten Hosen" sind vertreten und "Rammstein" schwärmt anheimelnd von Menschenfresserei ...


© 2004-2005 Text/Bilder Sixta Zerlauth